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Ein ganz bitterer Moment der deutschen Fußball-Historie

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Als Grosso Deutschland ins Herz traf

Am Sonntag wird zum 23. Mal ein Länderspiel in Dortmund ausgetragen. Das ist eigentlich ein gutes Omen vor dem Nations-League-Rückspiel gegen Italien - wäre da nicht die einzige Niederlage, die enorm schmerzte.
Am 9. Juni 2006 eröffnete Philipp Lahm mit einem Traumtor die WM in Deutschland. Es wurde ein Sommermärchen, die Welt war zu Gast bei Freunden.
Udo Muras
Am Sonntag wird zum 23. Mal ein Länderspiel in Dortmund ausgetragen. Das ist eigentlich ein gutes Omen vor dem Nations-League-Rückspiel gegen Italien - wäre da nicht die einzige Niederlage, die enorm schmerzte.

In Dortmund hat die Nationalmannschaft seit der Länderspiel-Premiere 1935 nur eine einzige Partie verloren, bei 17 Siegen und fünf Unentschieden. Weshalb man beim DFB in neuerer Zeit dazu überging, wichtige Spiele ins Westfalenstadion zu geben.

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Unvergessen das 4:1 in den Playoffs zur WM 2002 gegen die Ukraine oder das 2:0 im Vorjahr bei der EM in der Regenschlacht gegen Dänemark.

Michael Ballack (m.) und Co. nach dem Aus gegen Italien 2006 in Dortmund
Michael Ballack (m.) und Co. nach dem Aus gegen Italien 2006 in Dortmund

Einzige DFB-Niederlage in Dortmund unvergessen

Doch Vorsicht – die einzige Niederlage dort gab es ausgerechnet gegen Italien, das im Rückspiel des Nations-League-Viertelfinales am Sonntag erneut der Gegner ist (20.45 Uhr im LIVETICKER) - und auch dieses Spiel ist unvergessen. Denn selten wurden mehr deutsche Fan-Tränen vergossen als am 4. Juli 2006 im WM-Halbfinale. Was war da los?

Die DFB-Equipe unter Bundestrainer Jürgen Klinsmann spielte sich im WM-Sommer 2006 in einen Rausch. Alle Gruppenspiele und das Achtelfinale gegen Schweden wurden verdient und teils souverän gewonnen, gegen Argentinien im Elfmeterschießen Nervenstärke in der deutschen Spezialdisziplin bewiesen.

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Besondere Brisanz durch Frings-Sperre

Nun aber wartete Angstgegner Italien, gegen den es bei Turnieren bis dahin nie einen Sieg gab. Besondere Brisanz ergab sich, weil ausgerechnet italienische TV-Kameras Torsten Frings, der im allgemeinen Tumult nach dem Elfmeterschießen Argentiniens Julio Cruz einen Schlag versetzt haben soll, entlarvten.

Die FIFA sperrte den im defensiven Mittelfeld unverzichtbaren Bremer einen Tag vor dem Spiel. Die Bild kommentierte empört: „Dieses Urteil ist wirklich ein Schlag ins Gesicht.“

Gänsehaut-Momente neu erleben: SPORT1 nimmt die Fans mit auf die Fußball-Heldenreise der deutschen Nationalmannschaft und zeigt die zehn größten Spiele der DFB-Auswahl bei der FIFA Fussball-Weltmeisterschaft von 2002 bis 2014 in 90-minütigen Highlight-Zusammenfassungen mit neuen Moderationen und aktuellen Interviews.
10:02
WM 2006: Torsten Frings blickt zurück auf Elfer-Zettel und Rudelbildung

So kam Sebastian Kehl, Lokalmatador in Dortmund, zum Startelf-Debüt bei der Heim-WM. Auch Tim Borowski rückte für Bastian Schweinsteiger ins Team.

Das Ziel stand fest: Auf nach Berlin! Grund zum Übermut bestand trotz des speziellen Heimvorteils nicht, allzu frisch war die Erinnerung an das 1:4-Debakel von Florenz im März-Test.

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Italien seit 23 Spielen ungeschlagen

Zehn Spieler, die in Florenz mitwirkten, bekamen nun die Chance zur Revanche, nur Kehl war nicht dabei gewesen. Verteidiger Christoph Metzelder machte deutlich: „Es geht nicht um Rache für das 1:4, es geht um das Finale!“

Das wollten auch die Italiener erreichen. Noch ungeschlagen bei dieser WM, bewiesen auch sie ihren Ruf als Turniermannschaft. Glanzlos in der Vorrunde, aber abgeklärt und defensivstark wie seit je her, hatte das gänzlich aus Serie A-Spielern bestehende Ensemble im Viertelfinale den höchsten Sieg eingefahren – 3:0 gegen die Ukraine.

Als Co-Trainer Joachim Löw Scout Urs Siegenthaler nach Italiens Schwächen befragte, musste der passen. „Es wird schwer, die lassen sich durch nichts aus der Ruhe bringen“.

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Die Statistik sprach Bände: Marcello Lippis Team war seit 23 Spielen ungeschlagen. Bundestrainer Jürgen Klinsmann interessierte das alles wenig: „Wir wollen und werden die Hürde Italien nehmen.“

Frings hielt die Ansprache

Die letzte Ansprache in der Kabine hielt Frings. Wie vor jeder WM-Partie bildeten die Spieler einen Kreis und einer, der nicht auflief, hielt eine kurze Ansprache.

Was Frings sagte, ist dank des Kino-Films von Sönke Wortmann (Deutschland, ein Sommermärchen) dokumentiert.

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Ein Auszug: „Männer, vier Gründe, warum wir hier heute gewinnen. Nummer 1: Kampf! Absoluter Kampf bis zur totalen Erschöpfung. Nummer 2: Absoluter Wille! Keinen Ball verloren geben, jedem Zweikampf hinterher. Nummer 3: Mut! So spielen, wie wir können, und wir sind verdammt gut, Männer! Nummer 4: Wir sind ein Team! Und wir gewinnen das Spiel zusammen. Wir gehen jetzt raus und hauen die Scheißer weg!“ Fußballersprache…

Gut für die Spieler: An diesem Hochsommer-Dienstag, an dem tagsüber 30 Grad herrschten, wurde erst um 21 Uhr angepfiffen. Die Ränge waren natürlich vollbesetzt, man sah nur Menschen in weißen oder blauen Trikots.

Die Kulisse war so laut, dass 31,3 Millionen Fernsehzuschauer den ZDF-Kommentator Béla Réthy anfangs kaum verstanden. Für den ersten Aufreger sorgte Francesco Totti mit einem frechen 32-Meter-Freistoß, den Jens Lehmann parierte.

Die Deutschen fanden spät zu ihrem Spiel, kein Wunder bei zwei Neuen im Mittelfeld. Außerdem wurden sie von der „überraschenden Offensive der Italiener“ (Réthy) beeindruckt.

Fans skandierten: „Ihr seid nur ein Pizza-Lieferant“

Nach 16 Minuten wollte „Capitano“ Michael Ballack einen Handelfmeter haben, als er Andrea Pirlo angeköpft hatte, aber aus so kurzer Entfernung konnte von Absicht keine Rede sein.

Als Lukas Podolski einen Volleyschuss übers Tor setzt, forderte er das Publikum zu noch mehr Unterstützung auf. Und die kam, garniert mit einer Prise Humor. „Ihr seid nur ein Pizza-Lieferant“, schleuderten sie den Italienern entgegen.

Shootingstar Lukas Podolski blieb gegen Italien ein Tor verwehrt
Shootingstar Lukas Podolski blieb gegen Italien ein Tor verwehrt

In der 34. Minute hatten 60.000 den Torschrei auf den Lippen. Miroslav Klose bediente den freistehenden Bernd Schneider, der in 70 Länderspielen erst ein Tor geschossen hatte. Dabei blieb es, er donnerte den Ball aus 14 Metern übers Tor. Als auf der Stadionleinwand die Wiederholung lief, raunte die Menge – es war verdammt knapp vorbei.

Das Spiel wurde härter. Eben noch stellte Réthy fest, dass Schiedsrichter Benito Archundia aus Mexiko „viel laufen lässt“, da zückte der die erste Gelbe Karte gegen Tim Borowski.

Zur Halbzeit stand es 0:0. Im ZDF-Studio fasste der Mainzer Bundesligatrainer Jürgen Klopp das Geschehen so zusammen: „Ein komisches Spiel. Sehr intensiv, wenig Chancen – und doch ging es ruckzuck rum.“

Deutschland immer wieder von Buffon gestoppt

Aber es ging ja weiter. Ungewöhnlich: Kurz nach Wiederanpfiff wurde die Nationalhymne gesungen. Unbefangener Patriotismus, der sich einfach nur gut anfühlte im WM-Sommer 2006. Nur den Titel brachte er nicht, denn gegen Italien fielen wieder mal keine Tore.

Als Klose sich durchtankte, wurde er im letzten Moment von Keeper Gianluigi Buffon gestoppt. Der Torwart von Zwangsabsteiger Juventus Turin – das Urteil wegen Spielmanipulation erfuhren die Spieler unmittelbar vor dem Halbfinale – hielt auch Podolskis Drehschuss aus fünf Metern, ansonsten bekam er in der regulären Spielzeit nichts mehr zu tun.

Gianluigi Buffon gilt als einer der größten Torhüter der Geschichte. Der italienische Weltmeister von 2006 war sowohl auf als auch neben dem Platz eine absolute Legende und bei Juventus Turin hat er absoluten Kultstatus. Wie gut war eigentlich Gianluigi Buffon?
11:24
Der ewige Gigi: Wie gut war eigentlich Gianluigi Buffon?

Jens Lehmann ging es nicht anders, abgesehen von einer riskanten Flugeinlage in der 85. Minute, als er vor Simone Perotta klärte.

Ballack-Ansprache vor der Verlängerung

Klinsmann wechselte zwei Mal, Bayerns Bastian Schweinsteiger und Lokalmatador David Odonkor wurden euphorisch begrüßt. Das Publikum wurde seinem Ruf gerecht, das beste zu sein bei Länderspielen.

Und doch wackelte noch eine beachtliche Serie: Erstmals nach 20 Heimspielen unter Klinsmann hatte Deutschland nicht getroffen. Mit 0:0 ging es in die Verlängerung, in der alle Serien noch hätten gerettet werden können.

In der Pause wurden Ballacks Beine von zwei Masseuren geknetet, dann stand er auf und hielt in der Mitte des Kaderkreises eine engagierte Ansprache. „Haben Sie das Gesicht von Ballack gesehen? Wilde Entschlossenheit!“, staunte Réthy.

Italien brachte mit Vincenzo Iaquinta einen frischen Stürmer, dafür ging mit Camoranesi ein Mittelfeldspieler. Trainer Marcelo Lippi schien sich nicht nach einem Elfmeterschießen gegen die darin bei WM-Endrunden unschlagbaren Deutschen zu sehnen.

Italien drängt - zweimal rettet das Aluminium

Italien startete prompt furios in die Verlängerung und hatte Aluminium-Pech. Sowohl als Gilardino nach 40 Sekunden sein Solo mit einem Pfostenschuss abschloss als auch eine Minute später, da Gianluca Zambrotta aus 17 Metern die Latte anvisierte.

Aber es drängte geradezu ins Finale, Lippi brachte mit Alessandro del Piero einen vierten Stürmer. „Lippi sucht die Entscheidung“, stellte Réthy fest, und Deutschland suchte den verlorenen Spielfaden.

In der 105. Minute bot sich plötzlich die Führungschance: Wirbelwind Odonkor flankte von rechts in den Fünfmeterraum, wo Podolski frei stand. Mit dem Kopf traf er den Ball nicht richtig – zwei Meter vorbei.

Lahm scheitert, Lehmann im Glück

Ein letztes Mal wurden die Seiten gewechselt. Philipp Lahm versuchte eine Kopie seines Treffers gegen Costa Rica, setzte seinen Schlenzer aber etwas zu hoch an.

Joker del Piero stiftete allerlei Verwirrung: einmal bremsten sie ihn mit vereinten Kräften, beim zweiten Mal verfehlte er das von Lehmann leichtsinnig verlassene Tor.

Dazwischen lag die einzige deutsche Chance in der Verlängerung: Schweinsteiger bedienter Spezi Podolski, der den Ball im Strafraum auf seinen starken linken Fuß bekam und an Buffon scheiterte.

Gegenüber Lehmann war bei Pirlos 18-Meter-Hammer auf der Hut. Man musste zugeben: Italiens Führung wäre verdient angesichts von 10:5 Chancen und 57% Ballbesitz für die Azzuri. Noch aber hieß es 0:0, bis zwei Minuten vor Schluss.

„Grosso trifft uns ins Herz“

Gerade sagte Réthy: „Den Chancen nach muss die deutsche Mannschaft froh sein, diese Verlängerung überstanden zu haben. Bisher…“ Da kam sie, die fatale Ecke. Sie schuf Bilder, die sich bei Millionen Fans eingeprägt haben, in beiden Ländern.

Arne Friedrich köpfte den Ball aus dem Strafraum zu Pirlo. Der lief parallel zur Strafraumlinie, zog zwei Gegner auf sich und steckte durch zum freistehenden Linksverteidiger Fabio Grosso.

Der Mann aus Palermo, der im Starensemble der Azzuri ein Schattendasein führte, machte den Schuss seines Lebens. Mit links zirkelte er den Ball unhaltbar für Lehmann neben den Pfosten. „Grosso trifft uns ins Herz“, titelte die Bild-Zeitung am nächsten Tag. Denn es war die Entscheidung.

Mit diesem Schuss traf Fabio Grosso Deutschland ins Herz
Mit diesem Schuss traf Fabio Grosso Deutschland ins Herz

Ein Tor aufzuholen gegen führende Italiener in 60 Sekunden, das war zu allen Zeiten illusorisch. Sie versuchten es trotzdem, aber Podolski sprang der Ball von der Brust zwei Meter weg, Italien konterte wie aus dem Lehrbuch.

Eine Co-Produktion der Joker Alberto Gilardino und del Piero führte zum 2:0 und der Schiedsrichter pfiff gar nicht mehr an. Der deutsche Titeltraum zerplatzte in dem Stadion, wo sie sich für unverwundbar hielten.

Tränen bei Ballack und Odonkor

Das Sommermärchen hatte kein sportliches Happy End, aber es rührte die Menschen. Die Zuschauer applaudierten und sangen weiter, als wäre nichts geschehen.

Ballack und Odonkor weinten, schämen mussten sie sich ihrer Tränen nicht. Sie flossen auch auf den Rängen und den Fanmeilen und vielleicht auch in mancher Redaktion. Die Bild titelte jedenfalls: „Wir weinen mit Euch. Ihr seid trotzdem Helden!“

Die bekamen Trost von höchster Stelle. Die Bundeskanzlerin und der Bundespräsident kamen in die Kabine, wo Horst Köhler sagte: „Es hat nicht gereicht – aber Sie haben sich trotzdem in die Herzen der Deutschen gespielt. Ich bin sicher, dass Sie bei der nächsten EM wieder Großes leisten werden. Das Land ist stolz auf Sie.“

Als sie nachts um vier Uhr in ihrem Berliner Hotel ankamen, warteten noch 100 Fans, um Danke zu sagen.

Mit Italien bekommt es das DFB-Team im Nations-League-Viertelfinale mit einem Rivalen zu tun. Sportdirektor Rudi Völler warnt vor der Squadra Azzurra und erinnert sich an die gemeinsame Vergangenheit.
01:17
Erinnerungen an 2006: Völler warnt vor Italien

Und was sagte der Kaiser? Franz Beckenbauer (WM-OK-Chef) erkannte: „Unsere Mannschaft hätte auch den Sieg verdient gehabt, aber die anderen waren cleverer.“

Die anderen, das waren die Italiener, die dem Dortmunder Stadion etwas von seinem Mythos nahmen. Aber es blieb bis heute die Ausnahme, und die bestätigt bekanntlich die Regel.