Lee Carsley war bislang ein unbeschriebenes Blatt im Weltfußball - doch nach zwei Siegen als Interimstrainer der englischen Nationalmannschaft hat sich der 50-Jährige im Nu einen Namen gemacht.
Mehr als nur ein Notnagel?
Unter seiner Verantwortung entschieden die Three Lions die ersten beiden Nations-League-Partien für sich. Zum Auftakt gewann man mit 2:0 in Dublin gegen Irland - ausgerechnet gegen die Nation, dessen Trikot Carsley elf Jahre lang trug. Im ersten Heimspiel gegen Finnland feierte England am Dienstag einen ebenso souveränen 2:0-Sieg.
Nach zwei von sechs Partien steht der EM-Finalist mit sechs Punkten auf dem zweiten Platz der Gruppe B2. Nur Griechenland steht aufgrund des um ein Tor besseren Torverhältnisses vor den Three Lions. Das Ziel ist klar: vier weitere Siege und der Aufstieg in Liga A.
Nachdem Gareth Southgate nach dem verlorenen EM-Finale gegen Spanien (1:2) seinen Rücktritt verkündet hatte, sollte Carsley die Lücke interimsweise schließen - und dies gelang bislang tadellos. Kann sich der Coach sogar Hoffnung auf mehr machen?
Carsley als Spieler und Trainer unter dem Radar
Seine Vita liest sich auf den ersten Blick nicht wie eine, mit der man die Fußballwelt aus den Angeln heben will. Bei seinen bisherigen Stationen im Vereinsfußball bei Coventry City, dem FC Brentford und Birmingham City agierte Carsley lediglich als Interimstrainer.
Zwischen 2020 und 2024 betreute der 50-Jährige zuletzt die englischen U20- und U21-Nationalteams. Der Verband griff auf ihn zurück, um in aller Ruhe nach einem neuen Cheftrainer Ausschau zu halten.
Nach dem starken Auftakt scheinen nun aber die Chancen zu steigen, dass die Übergangslösung Carsley auch zur Dauerlösung werden könnte. „Carsley hat England seinen Stempel aufgedrückt“, schrieb etwa die BBC.
Carsley selbst gibt sich öffentlich eher zurückhaltend, wenn er danach gefragt wird. Sein Fokus liegt auf dem Fußball und nicht auf Dingen, die daneben geschehen. Das war schon immer so, auch als Spieler.
Auch da blieb Carsley weitgehend unter dem Radar. In Birmingham geboren, zog es ihn mit 18 Jahren zu Derby County. Dort stieg er bis zum Ersatzkapitän auf, bevor er zu den Blackburn Rovers wechselte.
Der richtige Mann am richtigen Ort?
Nach nur einer Saison und dem Abstieg in die Zweitklassigkeit ging es für den Mittelfeldspieler zurück in die Premier League zu Coventry City. Nachdem auch Coventry abgestiegen war, folgte 2002 der Wechsel zu Everton.
Dort verbrachte er die Blüte seiner Karriere, bevor es ihn mit 34 Jahren zurück nach Birmingham und 2010 wieder zu Coventry zog. Dort beendete er seine Profi-Karriere. In 471 Spielen erzielte der Mittelfeldspieler 33 Tore.
Auf Nationalmannschaftsebene hatte sich der Mann mit irischen Wurzeln entschieden, für Irland aufzulaufen. In neun Jahren durfte er 39 Mal im defensiven Mittelfeld auflaufen. Sein größtes Highlight war die Teilnahme an der WM 2002 in Japan und Südkorea.
Dass in Carsley nun ein Überraschungsmann auf dem Trainerstuhl Verantwortung übernimmt, könnte für die Three Lions genau der richtige Schachzug sein.
Nach der Southgate-Ära sehnen sich die britischen Fans nach offensivem, attraktivem Fußball. Unter dem abgetretenen Cheftrainer gewann man zwar viel Spiele, ließ aber allzu oft die Spielfreude vermissen. Den Finaleinzug bei der EM 2024 erreichte England mit einem nüchternen und nur aufs Ergebnis fixierten Stil.
„Ich fühle mich definitiv noch nicht wohl“
Obwohl auch unter Carsley längst nicht alles flutscht, profitiert ein Star jetzt schon vom neuen Trainer. Trent Alexander-Arnold, der seit Jahren bei Liverpool gesetzt ist, hatte nie das beste Verhältnis zu Southgate, bei dem er häufig im Mittelfeld aushelfen musste.
Carsley setzte ihn wieder auf seiner Lieblingsposition ein: als Rechtsverteidiger - diese Umstellung sollte sich prompt auszahlen. Gegen Finnland bediente er Kane, der zum 1:0 einnetzte. Mit fünf kreierten Chancen stellte der 25-Jährige zudem einen Bestwert in der Partie auf.
Und dennoch: Komplett in seiner Rolle angekommen ist Carsley noch nicht, wie er selbst bei ITV zugab: „Ich fühle mich definitiv noch nicht wohl. Ich war außerhalb meiner Komfortzone.“
Im Hinblick auf seine Hoffnungen, den Job als englischer Nationaltrainer langfristig erfüllen zu dürfen, hielt sich Carsley bedeckt. „Ich sehe die Situation total entspannt“, sagte Carsley und fügte pflichtbewusst hinzu: „Ich muss einen guten Job machen.“
Im Oktober hat Carsley nun die Chance, mit zwei weiteren Siegen gegen Tabellenführer Griechenland und Finnland weiter Werbung in eigener Sache zu betreiben.