Ann-Katrin Berger ist eine der Top-Torhüterinnen im Weltfußball. Nach Anfangsjahren beim VfL Sindelfingen und Turbine Potsdam verließ sie 2014 Deutschland und unterschrieb bei Paris Saint-Germain. 2016 lockte England, Berger wechselte zu Birmingham City LFC. Im November 2017 folgte dann der Schock, als bei ihr Schilddrüsenkrebs diagnostiziert wurde.
Berger: "Wie ein Atomkraftwerk"
Seit 2019 steht die 29-Jährige bei den Chelsea Ladies unter Vertrag. Nachdem die Stammtorhüterin der Blues, Hedvig Lindahl, als Schwangerschaftsvertretung für die deutsche Nationaltorhüterin Almuth Schult zum VfL Wolfsburg gewechselt war, wurde Berger Nummer 1 bei den Londonerinnen.
Im SPORT1-Interview spricht sie über die schwere Zeit der Krebserkrankung, ihr Vorbild und den Fußball in der Coronakrise.
SPORT1: Frau Berger, war Ihnen schon als Kind klar, dass Sie ins Tor wollen?
Ann-Katrin Berger: Ich habe mit vier Jahren angefangen, Fußball zu spielen, weil ich meinen Vater beim Fußballspielen gesehen habe. Und da war mir klar, dass ich das auch machen will, einfach mal die Sau rauslassen. Damals war ich noch Stürmer, musste ab und zu ins Mittelfeld und musste sogar auch mal in der Abwehr spielen. Und irgendwann wurde ich dann richtig lauffaul. Da war für mich klar, dass Torwart die beste Position für mich ist. Und im Tor habe ich mich nicht ganz so dumm angestellt.
Van der Sar war Bergers Vorbild
SPORT1: Wer war denn früher Ihr Held im Tor?
Berger: Ich habe schon immer Edwin van der Sar gemocht. Jeder erzählt immer, dass Manuel Neuer ein spielender Torwart ist. Aber der Niederländer van der Sar war der Torhüter, der das zum ersten Mal auf dem Platz gezeigt hat. Ich fand das interessant, wie er als Torwart seiner Mannschaft geholfen hat. Ich erinnere mich, dass er sechs Kilometer gelaufen ist und das als Keeper. Das war in der Zeit damals beeindruckend. Ich wollte immer anders als die anderen sein. Deshalb war van der Sar ein großes Vorbild.
SPORT1: Haben Sie sich bei den Männern im Tor schon früh etwas abgeschaut?
Berger: Ich war als Kind nicht sehr groß, erst mit 18 Jahren bekam ich einen richtigen Schub und bin noch mal gewachsen. Ich habe mich nie auf einen Torwart fixiert, sondern habe immer nur geschaut, wo die Stärken bei jedem anderen Keeper sind, und wollte mir da dann immer das Beste rauspicken.
SPORT1: Haben Sie immer alles auf die Karte Fußball gesetzt oder vorher auch etwas anderes gemacht?
Berger: Ich hatte schon immer nur Sport im Kopf. Als kleines Mädchen habe ich auch Basketball gespielt. Dann habe ich auch sehr viel Tischtennis gespielt, weil meine Schwester auch im Verein war. Aber als ich dann bei den Mädchen war mit 15, 16, habe ich mich festgelegt, dass ich mit Fußball einmal Geld verdienen will. Vorher habe ich vieles ausprobiert, was mir gefällt.
Millionärin? "Davon träume ich jede Nacht"
SPORT1: Seit wann konnten Sie vom Fußball leben?
Berger: Ich habe schon in Potsdam schon davon leben können. Der Verein war damals schon sehr ambitioniert und hoch angesehen. Und hatte eine große Tradition. Natürlich war das nicht wie bei den Männern, so dass ich mir habe viel Schnickschnack kaufen können. Aber ich habe gut davon gelebt. Im Ausland ging es mir dann noch mal besser. Ich bin aber noch keine Fußball-Millionärin. Davon träume ich aber jede Nacht (lacht). Nur einige Vereine in Europa schaffen das, Millionen-Gehälter zu zahlen. Aber leider ist der Frauenfußball noch nicht so weit. Aber mein Lebensstandard ist völlig okay.
SPORT1: Mit 23 sind Sie ins Ausland zu Paris Saint-Germain gewechselt. Wollten Sie bewusst weg aus Deutschland?
Berger: Ich wollte einfach einen Tapetenwechsel. Ich wollte raus aus Deutschland, weil da so viele gleiche Strukturen waren. Ich wollte mir einen anderen Torwart-Style beibringen. Und ich habe damals gespürt, dass ich das im Ausland besser kann. Jedes Land hat eine eigene Kultur und Philosophie. Für mich war es extrem wichtig, rauszukommen aus Deutschland. Ich wollte den Bann brechen und nicht immer das Gleiche erzählt bekommen und dasselbe Training erleben.
SPORT1: Wie haben Sie sich durch den Gang ins Ausland verändert?
Berger: Ich habe mich komplett verändert, konnte meine eigene Art finden, das Torwart-Spiel neu zu interpretieren. Auch persönlich war es die richtige Entscheidung. Ich bin offener für viele Dinge, bin nicht mehr so fixiert auf eine Sache. Ich werde in England zum Beispiel nicht mehr sagen können, dass die deutsche Liga besser ist. Es ist so wichtig für Menschen und speziell für Fußballerinnen, den Schritt ins Ausland zu machen. Früher dachte ich immer, das wäre einfach so daher gesagt, wenn das einer der Männer gesagt hat. Aber es ist wirklich so. Ich kann nur jedem raten: Geh ins Ausland! Jeder sollte mal realisieren, was außerhalb von Deutschland passiert.
SPORT1: Haben Sie mit Ihren Mannschaftskolleginnen in der Nationalelf darüber gesprochen?
Berger: Ich habe da gemerkt, wer nur auf Deutschland fixiert ist und wer ein bisschen neugieriger und offener ist. Leider sind das sehr wenige. Es könnte als Arroganz abgetan werden, weil wir uns in Deutschland immer noch zu den Besten zählen oder es könnte auch so gesehen werden, dass wir viel zu heimatorientiert sind und nicht darauf schauen, was außerhalb von Deutschland passiert.
SPORT1: Haben Sie sich durch England eine gesunde Arroganz angeeignet?
Berger: Ich war schon immer ganz weit weg von Arroganz. Im Gegenteil. Ich bin immer darauf bedacht, wie ich dem Team helfen kann. Ich höre inzwischen den Menschen besser zu und achte darauf, was sie brauchen. Das beginnt auf dem Rasen, wenn ich mit der Abwehr kommuniziere. Ich höre im Gegensatz zu anderen Torhütern mehr zu. Andere schreien ihre Vorderleute sofort an. Da bin ich zurückhaltender. Aber ich weiß auch, wann ich dann etwas deutlich sagen muss. Ich bin einfach selbstbewusst. Die Leute dachten früher, ich sei arrogant, doch als sie mich dann kennen gelernt haben, sagten sie, ich hätte auf dem Platz ein zweites Gesicht. Auf dem Rasen bin ich ein komplett anderer Mensch.
Berger: "Ich bin kontrolliert bekloppt"
SPORT1: Torhütern sagt man nach, dass sie oft bekloppte Typen sind. Wie ist das bei Ihnen?
Berger:(lacht laut) In manchen Dingen bin ich auch total bekloppt, das gehört einfach dazu. Ich bin kontrolliert bekloppt.
SPORT1: Lassen Sie uns über eine traurige Zeit in Ihrem Leben sprechen. 2017 hatten Sie Schilddrüsenkrebs. Wie denken Sie an diese Zeit zurück?
Berger: Es war eine verdammt harte und prägende Zeit für mich. Am Anfang war ich total geschockt, weil du das als Sportlerin nicht erwartest. Für mich war aber von vornherein klar, dass es mir irgendwann wieder besser geht, weil ich schon immer eine Kämpferin, ein Sturkopf war. Wenn ich mir früher schon etwas in meinen Kopf gesetzt habe, dann wollte ich das unbedingt durchsetzen. Diese Mentalität war für mich gerade in dieser schweren Phase meines Lebens sehr hilfreich. Die Operation war sehr schwer, weil ich bis dahin noch nie operiert werden musste. Aber eine Sache war besonders hart.
SPORT1: Nämlich welche?
Berger: Diese Isolation. Ich musste für drei Tage total isoliert werden. Ich wurde behandelt wie ein Atomkraftwerk. Es war schrecklich. Es war ein kleiner Raum, und ich war dort eingesperrt, hatte keinen Kontakt zur Außenwelt. Es gab keinen Sonnenschein, kein Licht von außen und keine frische Luft. Gar nichts. Ich könnte mir vorstellen, dass viele Leute in so einer Situation verrückt geworden wären.
SPORT1: Das klingt furchtbar.
Berger: Gott sei Dank hatte ich WLAN, so dass ich viel am Telefon war und mit meiner Familie und meinen Freunden Kontakt halten konnte. Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als ich zum ersten Mal das Krankenhaus verlassen und auf das Taxi gewartet habe. Da habe ich zum ersten Mal die Luft ganz intensiv einatmen können. Und jedes Stückchen Luft habe ich genossen und analysiert. Das war ein krasser Moment.
"Kopf war kein Teil meines Körpers mehr"
SPORT1: Woher haben Sie die Kraft genommen, da durchzukommen?
Berger: Ich habe mein Leben lang dafür gearbeitet, Fußball zu spielen. Und das hat mir die Kraft gegeben, daran zu glauben, diese Phase so schnell wie möglich hinter mir zu lassen. Meine Familie und meine damalige Torwart-Trainerin (damals spielte Berger bei Birmingham City LFC, Anm. d. Red.) und meine Mitbewohnerin waren die ganze Zeit für mich da, waren bei jedem Termin dabei, egal, ob meine Torwart-Trainerin für einen zehnminütigen Termin eine Stunde fahren musste. Das vergesse ich nie. Beide waren eine große Hilfe. Zusammen mit meiner Familie. Daraus habe ich unfassbar viel Kraft schöpfen können.
SPORT1: Leben Sie heute anders?
Berger: Ich lebe vor allem bewusster, empfinde nichts mehr als normal, bin noch dankbarer. Alles, was ich mache und bekomme, schätze ich jetzt viel mehr. Natürlich hätte ich zu dieser Zeit gerne einen Partner an meiner Seite gehabt. Aber ich hatte in dieser Zeit, in der ich so liebe Hilfe bekam, das Gefühl wie in einer Partnerschaft zu leben. Diese lieben Menschen waren fast 24 Stunden für mich da. Meine Mitbewohnerin war jede Sekunde des Tages bei mir, damit ich sehen konnte, dass es mir an nichts fehlt und jeder sehen konnte, dass es so weit alles gut ist.
SPORT1: Sie waren nach Ihrer Krankheit stärker als vorher. Wie kam es dazu?
Berger: Die Krankheit hat mich geprägt. Ich habe wieder von null anfangen müssen. Natürlich habe ich nicht verlernt, Torhüterin zu sein. Aber ich habe schon vieles neu lernen müssen. Nach der Operation hatte ich das Gefühl, dass mein Kopf kein Teil meines Körpers mehr war, weil die Hälfte von meinem Hals aufgeschnitten wurde. Ich musste im Training härter daran arbeiten, dass die ganzen Funktionen wieder möglich sind, weil im Nacken sehr viele Muskeln und für uns Torhüterinnen die Schultern auch sehr wichtig sind. Jede einzelne Muskelpartie musste wieder aufgebaut und neu trainiert werden - vom kleinen Zeh bis in die Haarspitze.
SPORT1: Sie haben darüber gesprochen, dass Sie durch den Krebs Dinge ganz anders wertschätzen. Durch die Coronakrise steht der Fußball still. Momentan wird Menschlichkeit groß geschrieben, aber zählt die im Fußballgeschäft überhaupt noch?
Berger: Der Fußball hängt leider am Tropf des Geldes. Und Menschlichkeit bleibt auf der Strecke. Gerade in der Krise ist das anders, aber ich befürchte, dass es anders wird, sobald sich alles wieder im Normalzustand befindet. Das ist sehr schade. Man darf aber nicht vergessen, dass Fußballer Menschen sind und ihr Bestes geben. Für alle Menschen ist es gerade gut, sich zu sammeln und zu sehen, was auf der Erde passiert - da ist der Fußball nur ein kleiner Teil. Jeder kann das Virus bekommen. Die Pause wird uns gut tun.