Die Turbinen scheinen ihre letzten Umdrehungen in der obersten Spielklasse zu machen - es droht der Abstieg eines Traditionsklubs und nicht weniger als der Zusammenbruch eines Stücks deutscher Fußballgeschichte.
Der Absturz eines Traditionsvereins
Der 1. FFC Turbine Potsdam ist mit nur einem Punkt aus sieben Spielen das Schlusslicht der FLYERALARM Frauen-Bundesliga und steht seit dieser Woche ohne Cheftrainer da. (DATEN: Tabelle der Frauen-Bundesliga)
Turbine Potsdam: Von Pokalfinale zu Fast-Blamage gegen Viktoria Berlin
Am 7. Spieltag ging auch noch das entscheidende direkte Duell im Tabellenkeller bei der SGS Essen verloren (1:2) - doch damit nicht genug: Die Probleme des einstigen Riesen im deutschen Frauenfußball sitzen sogar noch tiefer, als es die aktuelle sportliche Situation verrät. (DATEN: Spielplan und Ergebnisse der Frauen-Bundesliga)
Schon das erste Pflichtspiel der laufenden Saison war ein Vorbote der Krise - und ein Aufeinandertreffen mit dickem „Ausgerechnet“-Stempel.
In der ersten Runde des DFB-Pokals traten die Potsdamerinnen, die keine vier Monate zuvor noch im Pokalfinale standen, beim FC Viktoria 1889 Berlin an. Regionalligist. Hauptstadtklub. 30 Autominuten entfernt. Hype-Klub. Hatte wenige Wochen zuvor Aufsehen erregend nichts weniger als eine „Revolution im Fußball“ ausgerufen und das Ziel Bundesliga-Aufstieg ausgegeben. (NEWS: Frauen-Gruppe will Viktoria Berlin in die Bundesliga führen)
In einem wahren Pokal-Krimi entging Turbine nur denkbar knapp einer Blamage gegen den unterklassigen Gegner (4:4 nach Verlängerung, 3:2 im Elfmeterschießen).
Cheftrainer Sebastian Middeke sprach damals von einem „tollen Pokalfight“ und sah „einige Dinge, die wir in Zukunft besser machen müssen“. Heute steht fest: Pustekuchen! Und Middeke ist weg. (Hier die Klubmitteilung zur Trainerentlassung)
Ariane Hingst: „Verein hat sich nicht mit Ruhm bekleckert“
Turbine sorgte für die erste Trainerentlassung dieser Saison, erhörte damit einen Teil der Fans: „Ohne Trainer haben wir eine Chance“, sangen spöttische Anhänger beim 0:5 am vergangenen Wochenende im heimischen Karl-Liebknecht-Stadion gegen den SC Freiburg. Wobei das Middeke-Aus laut Märkischer Allgemeiner Zeitung sogar schon vor dem 0:5 festgestanden habe.
Dabei war 38 Jahre alte Middeke erst vor der Saison auf den geschassten Trainer, Ex-Hertha-Profi Sofian Chahed, gefolgt. „Mit den vielen Trainerwechseln innerhalb von ein paar Monaten hat sich der Verein sicherlich auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert“, sagt Turbine-Legende Ariane Hingst im Gespräch mit SPORT1: „Natürlich tut es mir echt weh, zu sehen, was aus dem Verein geworden ist.“
Neben dem sportlichen Absturz bekümmert Hingst das Gesamtbild, das Turbine abgibt. „Was so ein bisschen schade ist: dass Turbine in den vergangenen Monaten und Jahren leider viel mehr Negativ- als Positiv-Schlagzeilen geschrieben hat“, sagt die zweimalige Weltmeisterin und Co-Gründerin von sowie Gesellschafterin bei, just, Viktoria Berlin.
Voller Trophäenschrank - prominente Ex-Spielerinnen
Auch Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg blickt „ein bisschen sorgenvoll nach Potsdam“: „Weil es eine tolle Traditionsmannschaft ist, weil sie ganz viele großartige Erfolge für den deutschen Fußball erreicht haben“, sagte die 54-Jährige am Mittwoch: „Das tut mir dann immer in der Seele weh.“
Turbine war einst der Primus im Frauen-Fußball. Mit herausragenden Bedingungen, die in Deutschland ihresgleichen suchten. Der Klub am Potsdamer Luftschiffhafen gewann alles: 6x Deutscher Meister, zuvor 6x DDR-Meister, 3x DFB-Pokal-Sieger, 2x Champions-League-Gewinner.
Ikonen des Frauen-Fußballs wurden hier groß: Neben Hingst auch Anja Mittag, Nadine Angerer, Fatmire Alushi, Conny Pohlers - internationale Stars wie die erste Weltfußballerin Ada Hegerberg aus Norwegen oder die Brasilianerin Cristiane.
Einer der glorreichsten Klubs nicht nur des deutschen Frauen-Fußballs - er steht vor einem Scherbenhaufen.
Ein Traditionsverein versinkt im Chaos
Im Sommer kam es zu einem regelrechten Exodus: Quasi alle Leistungsträgerinnen wanderten ab, Top-Spielerinnen wie Selina Cerci, Sara Agrez oder Merle Barth, um nur einen Bruchteil der Abgänge zu nennen. (NEWS: Alles Wichtige zur Frauen-Bundesliga)
Erschwerend hinzu kamen und kommen Turbulenzen auf Führungsebene:
- Anfang Juni: Coach Chahed wird trotz Vertragsverlängerung bis 2025 im Dezember und Pokalfinale im Mai entlassen - gegen den Willen von Präsident Rolf Kutzmutz.
- Wenige Tage später: Paukenschlag! Kutzmutz tritt nach sieben Amtsjahren und 22 Jahren im Verein zurück.
- Ende September: Vizepräsident Uwe Reher tritt zurück.
- Ende Oktober: Trainer Middeke wird entlassen - Schatzmeisterin Stefanie Draws und Beisitzer Gordon Engelmann treten als Vorstände zurück.
- November: Der Turbine-Vorstand besteht nur noch aus der kommissarischen Vereinschefin Ulrike Häfner und Beisitzerin Susanne Lepke - der Trainerposten wird interimsmäßig mit dem bisherigen Co-Trainer Dirk Heinrichs, der keine A-Lizenz hat, besetzt.
„Ich glaube, dass Potsdam leider viel zu lange in der Vergangenheit gelebt und es verpasst hat, sich weiterzuentwickeln, auch strukturell weiterzuentwickeln. Der Umbruch wurde verpennt“, sagt Hingst.
Tabea Kemme: „Finde keine Identifikation mehr mit diesem Verein“
Die 43-Jährige verweist auch auf 2021 und die „Präsidentschaftskandidatur von Tabea Kemme, wo der Verein eventuell eine riesige Chance vertan hat“. Kemme unterlag damals Kutzmutz knapp (110:100 Stimmen). Die dadurch offensichtlich gewordene Spaltung des Vereins wurde anschließend nicht erfolgreich angepackt.
„Ich finde keine Identifikation mehr mit diesem Verein, wo ich lange Jahre gespielt habe“, sagte Kemme (von 2008 bis 2018 über 150 Spiele für Turbine, Champions-League-Sieg 2010) in diesem Juni dem RBB.
Kemmes Kritik: zu wenig Professionalität, zu wenig Kompetenz bei Ausbildung und Weiterentwicklung der Spielerinnen. Sie mache es „traurig, weil ich weiß, wie es ist, wenn man den Traum hat, in der 1. Bundesliga und dann in der Nationalmannschaft zu spielen. Dafür brauchst du einfach die Grundlagen und die kann der Verein derzeit nicht bieten.“
Dabei waren diese mal da! Zur Zeit von Ariane Hingst hatte Turbine “Bedingungen, da waren andere Vereine in der Bundesliga meilenweit von entfernt“. „Aber: Turbine hat sich nicht weiterentwickelt! Man hat sich zu lange darauf ausgeruht“, kritisiert Hingst.
Chancenlos als reiner Frauenklub? „Das ist zu einfach!“
Stillstand, obwohl der Wettbewerb immer härter wurde. VfL Wolfsburg, FC Bayern, Eintracht Frankfurt, TSG Hoffenheim, 1. FC Köln: Frauen-Teams von Männer-Klubs hatten zuletzt Vorteile, beispielsweise größere finanzielle Möglichkeiten, und machten große Schritte.
Potsdams Interimstrainer Heinrichs sprach auf seiner ersten Spieltags-PK vom „jährlichen Kampf gegen die anderen Machtverhältnisse“ und bat um Unterstützung.
Dass die Probleme von Turbine aber einzig und allein am Status als reiner Frauen-Verein hängen sollen, bezweifelt Hingst. „Ich glaube, dass Fehler gemacht worden sind, und ich finde es zu leicht, zu sagen, ‚Weil wir ein reiner Frauenfußballverein sind, haben wir die große Problematik, und nur noch Vereine, die an große Männerklubs angebunden sind, haben in Zukunft eine Chance‘ - das ist zu einfach! Wie es bei den finanziellen Mitteln und möglichen Gehältern aussieht, kann ich aus der Ferne natürlich nicht beurteilen.“
Trainer-Legende Schröder: „Wir haben keine zwei Versuche mehr“
Immerhin: Dass sich was ändern muss, ist erkannt worden. Seit einigen Wochen existiert eine zwölfköpfige Task Force. „Diese Gruppe wird die Veränderungsprozesse im Verein unterstützen“, erklärte die kommissarische Vereinschefin Häfner.
Die nächsten wichtigen Schritte: Mitgliederversammlung am 11. November - inklusive Präsidentschaftswahl. Einziger Kandidat bislang: der Mediziner Karsten Ritter-Lang, der auch erkannt hat: Der Verein muss „organisatorisch restrukturiert“ werden.
Derweil muss auch die Trainerfindungskommission harte Arbeit leisten. „Die Auswahl ist nicht groß und wir haben keine zwei Versuche mehr“, sagte Ehrenpräsident Bernd Schröder. Die 80 Jahre alte Trainer-Legende (1971-1992 und 1997-2016 Potsdams Trainer) gehört der Kommission an, ein eigenes Comeback schließt Schröder aber aus: „Es müssen andere Gesichter her, aber das andere Gesicht bin nicht ich.“ Was der neue Coach können muss? „Abstiegskampf.“
Ein Projekt, das für den in Trümmern liegenden Traditionsverein schier aussichtslos erscheint. „Ich drücke natürlich die Daumen, dass sie die Klasse halten, aber das wird eine echt schwierige Aufgabe“, sagt auch Hingst, ergänzt aber: „Ich bin schon viel zu lange im Fußballgeschäft, um nicht zu wissen, dass Unmögliches auf einmal möglich werden kann.“
Die Chancen seien „nicht allzu hoch“, aber: „Totgesagte leben länger.“