Slaven Bilic kommt gerade vom Arzt, ist stark erkältet, doch den vereinbarten Termin für das Telefon-Interview sagt er nicht ab.
„Eintracht ist eine Stufe höher“
Der frühere Bundesliga-Profi des Karlsruher SC ist gerade ohne Job, das Fußball-Geschehen aber hat er natürlich immer auf dem Radar.
Am Donnerstag wird der 53-Jährige ganz besonders hinschauen, wenn sein früherer Klub West Ham United zu Hause Eintracht Frankfurt im Europa-League-Halbfinale empfängt.
Von 2015 bis 2017 war der Bilic Trainer von West Ham United. Und das überaus erfolgreich. Der Kroate stellte mit seinem Team einen Startrekord mit drei Auswärtssiegen beim FC Arsenal, Manchester City und beim FC Liverpool auf.
Bei SPORT1 spricht Bilic nun über seinen Ex-Klub, die Eintracht, SGE-Star Filip Kostic - und den Unterschied zwischen der Bundesliga und der Premier League. (DATEN: Ergebnisse und Spielplan der Europa League)
SPORT1: Herr Bilic, einige der Spieler, die heute für West Ham spielen, kennen Sie noch. Was zeichnet die Hammers aus?
Slaven Bilic: Sie spielen eine fantastische Saison. Sie sind jetzt sehr erfahren, haben Kontinuität und mit David Moyes einen Trainer, der nach der Saison 2017/2018 in seiner zweiten Amtszeit dort arbeitet. (zwischendurch war Manuel Pellegrini Trainer, d. Red.). Er ist wirklich ein sehr guter Trainer. Seine Teams waren immer gut organisiert. Was extrem wichtig ist: Viele Spieler sind schon fünf bis acht Jahre bei West Ham.
SPORT1: Sie schwärmen ja richtig...
Bilic: West Ham ist dabei, ein großer Verein zu werden. Sie haben in den vergangenen Jahren einen deutlichen Schritt nach vorne gemacht. Als ich dort Trainer war, war der Verein im Umbruch, gab es den Übergang vom Capital Park zum Olympiastadion. Das war ein riesiger Schritt. Nicht nur, dass damit die Kapazität von 35.000 auf rund 65.000 Zuschauer stieg. Das neue Stadion ist wie ein Theater. Unglaublich!
SPORT1: Wie ein Theater?
Bilic: Es ist kein altmodisches, typisches Fußballstadion. Man braucht Zeit, um sich an eine neue Arena zu gewöhnen. Im alten Stadion gibt es schließlich viele gute Erinnerungen. Und jetzt spielt West Ham schon sechs Jahre im neuen Stadion und es ist ihr Zuhause geworden. Sie fühlen sich dort wohl.
SPORT1: Wie blicken Sie auf Ihre Zeit bei West Ham zurück?
Bilic: Nur positiv. Ich bin sehr glücklich, dass ich einmal Trainer von West Ham war. Ich habe ihnen damals gesagt, dass es eine Übergangszeit war, um einen Schritt nach oben zu machen. West Ham wird finanziell nie so weit sein, dass es mit den großen sechs Vereinen mithalten kann. Aber wir hatten eine großartige Abschiedssaison im alten Stadion und dann ein sehr gutes zweites Jahr. Leider lief es in der dritten Saison nicht mehr so gut, und ich wurde schließlich abgelöst.
SPORT1: Declan Rice hat einen Marktwert von über 70 Millionen Euro und ist 29-facher englischer Nationalspieler. Er hat sein Profidebüt unter Ihnen gegeben. Was zeichnet ihn aus?
Bilic: Declan war damals schon ein Volltreffer. Er war wie ein Schwamm, der alles aufsaugen wollte. Ich mag junge Spieler wie ihn, weil sie einem Trainer Energie geben. Sie haben keine Angst und sind mutig. Aber manchmal sind sie zu lässig. Declan war sehr ausgeglichen und mit gerade mal 18 schon ein sehr selbstbewusster, reifer Typ. Er hatte aber die Ausstrahlung und die Denkweise wie sonst erst mit 25, 26. Ich habe nicht gedacht, dass er es so weit bringen würde, aber es war offensichtlich, dass er alle Chancen dazu hat. Heute ist er eine Art Anführer - mutig und lautstark in der Mannschaft. (NEWS: Alle aktuellen Infos zur Europa League)
SPORT1: Als Profi waren Sie einmal Teil einer Mannschaft, die sensationell das Halbfinale erreichte. Der Karlsruher SC verlor 1994 gegen Casino Salzburg. Wie konnte der KSC diesen Spirit entwickeln?
Bilic: Es war das erste Mal, dass wir in Europa gespielt haben. Und ich erinnere mich, dass wir in der ersten Runde die PSV Eindhoven zu Hause empfingen. Da sagten alle, wir schaffen es nicht. Im zweiten Spiel wartete Valencia zu Hause auf uns, es war unglaublich. Aber im dritten Spiel wurden wir zuversichtlicher. Wir waren in der Bundesliga und haben uns in der Liga gut geschlagen. Und dann bekommt man Vertrauen auch in Europa. Du spielst gegen die Bayern und Dortmund, spielst gegen Leverkusen. Es war wirklich eine starke Liga. Und dann kam Bordeaux mit Zidane, Dugarry, mit Lizarazu. Wir waren schon ein bisschen Favorit in dem Spiel gegen Salzburg. Ich bedaure es sehr, denn es war eine große Chance für uns. Das erste Spiel in Wien habe ich nicht gespielt. Ich hätte gerne das Finale gegen Inter Mailand gespielt. Es war eine große Enttäuschung für uns alle.
SPORT1: Der 7:0-Sieg gegen Valencia mit „Euro Eddy“ Edgar „Euro Eddy“ Schmidt war eine Sternstunde für alle Karlsruher. Die Eintracht hatte ihre Sternstunde zuletzt in Barcelona. Sehen Sie gewisse Parallelen zwischen dem KSC damals und der SGE von heute?
Bilic: Nein, denn Frankfurt ist ein größerer Name in der Geschichte. Das war damals das erste Mal für Karlsruhe in Europa. Ich weiß, dass das dem KSC nicht gefallen wird, aber das ist größer als die Spiele des KSC. Eintracht Frankfurt ist eine Stufe höher. Wenn du Eintracht Frankfurt sagst, denke ich sofort an die Zeit mit Okocha, Uwe Bein, Yeboah zurück.
SPORT1: Sie kennen die Bundesliga als Spieler und die Premier League als Trainer. Wie unterscheiden sich diese beiden Top-Ligen?
Bilic: Die Bundesliga hat einen irren Stellenwert. Da herrscht fast immer eine großartige Atmosphäre in tollen, ausverkauften Stadien. In der Premier League gibt es ein ausgeglicheneres Niveau. Wenn West Ham eine tolle Saison spielt, können sie dennoch Siebter werden, weil es sehr schwierig ist auf dem hohen Niveau. Man braucht eine Wundersaison, um vorne dabei zu sein. Oder einige der großen Klubs müssen schwächeln. In der Bundesliga ist es eine Herausforderung, denn da gibt es natürlich die großen Zwei mit den Bayern und Dortmund. Und Leipzig vielleicht. Man kann die Qualität der Bundesliga und der Premier League nicht wirklichmiteinander vergleichen.
SPORT1: Warum nicht?
Bilic: Es ist nicht nur die wettbewerbsfähigste Liga in England, sondern es ist einfach die qualitativ hochwertigste und nahezu teuerste Liga. Es gibt Bayern, Borussia Dortmund, Real Madrid. Das ist das oberste Regal. Real Madrid ist für mich zusammen mit den Bayern vielleicht größer als jeder andere Verein in der Premier League. Aber ich spreche jetzt über die Liga. West Ham hat diese hohe Qualität jede Woche, deshalb sind sie größer als die Eintracht. Jede Liga ist wettbewerbsfähig. Aber die Premier League ist eine Stufe drüber. West Ham musste gegen Chelsea spielen und soll trotzdem um Europa kämpfen. Sie können sich nicht ganz auf die Eintracht konzentrieren. Das ist eine Chance, die die Frankfurter nutzen müssen.
SPORT1: Wer sind für Sie Schlüsselspieler der Eintracht?
Bilic: Kostic. Er ist einfach unglaublich. Deshalb haben ihn auch die großen Klubs in Europa auf dem Schirm. Als Mannschaft ging es für Eintracht in dieser Saison in der Liga oft auf und ab. Europäisch sieht man aber, dass sie einen Plan haben. Vielleicht haben sie nicht mehr die individuelle Klasse wie noch vor ein paar Jahren, als es noch Haller, Jovic und Rebic gab. Aber sie liefern unglaubliche Spiele ab. Nicht nur in Barcelona. Doch sie müssen weiter Feuer und Flamme sein. Ich glaube, es wird ein bisschen wie ein Schachspiel sein.
SPORT1: Als ehemaliger Innenverteidiger müssen Sie von den Leistungen von Martin Hinteregger beeindruckt sein. Wäre der Österreicher von seinem Profil her auch ein Mann für die Premier League?
Bilic: Das ist er auf jeden Fall. Er wäre der erste Österreicher in der Premier League. Er würde es auf jeden Fall hinbekommen. Ich weiß nicht, was er tun wird, aber er wird definitiv einige Optionen haben.
SPORT1: Die Eintracht-Fans haben den FC Barcelona völlig überrascht. Sehen Sie die Anhänger als spielentscheidenden Faktor?
Bilic: Die Fans waren ein großer Faktor in dieser Nacht in Barcelona. Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, dass sich das in London wiederholt, denn auch die Fans von West Ham haben große Träume. Sie haben rund 30 Jahre lang auf diesen Abend gewartet, um das Finale zu erreichen.
SPORT1: Sie sind seit Anfang des Jahres ohne Job. Würde es Sie reizen, nächstes Jahr in der Bundesliga zu arbeiten?
Bilic: Die Bundesliga ist kein Traum für mich. Ich hatte zwei Mal die Chance, dort zu arbeiten, als ich bei Besiktas Istanbul war. Aber als ich nach England kam, wollte ich England nie mehr verlassen. Die Bundesliga gehört zu den fünf besten Ligen in Europa und ist für keinen Trainer der Welt uninteressant. Kein Trainer kann die Bundesliga ignorieren. Dort wird großartiger Fußball in tollen Arenen gespielt. Aber ich würde es nicht als meinen Traum bezeichnen.
SPORT1: Wann glauben Sie, dass Sie wieder auf dem Spielfeld stehen werden?
Bilic: Ich möchte schon in der nächsten Saison wieder arbeiten. Ich habe viel Zeit in China verbracht. Es war toll dort, aber das Problem ist, dass die Familie nicht zu mir kommen konnte, und ich habe dann beschlossen, nicht noch ein Jahr ohne sie dort zu verbringen. Ich habe den Vorsitzenden schließlich gebeten, mich gehen zu lassen. Jetzt bin ich bereit für eine neue Aufgabe ab Sommer.