Nach dem 1:1 im Hinspiel ist RB Leipzig bei Atalanta Bergamo zum Siegen verdammt. Doch ein Selbstläufer wird es ganz bestimmt nicht. (DATEN: Ergebnisse und Spielplan der Europa League)
So kann Leipzig Atalanta knacken
Denn im Viertelfinal-Rückspiel der UEFA Europa League vertraut La Dea (auf deutsch: Die Göttin) nicht auf göttlichen Beistand, sondern vielmehr auf seine eigenen Stärken.
SPORT1 zeigt auf, weshalb die oft unterschätzten Lombarden ein ernstzunehmender Gegner für die Roten Bullen sind.
Gian Piero Gasperini und die „Kunst des Krieges“
Vater des Erfolges in Bergamo ist Gian Piero Gasperini, der 2016 das Traineramt übernahm. Seitdem wurde Atalanta in der italienischen Liga Vierter, Siebter sowie drei Mal Dritter. Zuvor hatte es seit dem Aufstieg 2011 nie für die obere Tabellenhälfte gereicht.
Unter dem 64-Jährigen aber etablierten sich die Bergamasken als Top-Team in der Serie A und ließen auch in der Champions League ihr Können aufblitzen.
Thomas Tuchel beschrieb Bergamo zu seiner PSG-Zeit als „eine spektakuläre, offensivstarke, nicht sehr italienische Mannschaft“. Also nichts mit Catenaccio!
Gasperini selbst erklärt seinen Fußball mit einem Spruch aus Sun Tzus „Kunst des Krieges“: „Wenn man verteidigt, ist man unbesiegbar, aber wenn man gewinnen will, muss man angreifen. Das fasst den Geist und die Mentalität zusammen, die ich meiner Mannschaft vermitteln möchte.“
Und das fordert er jeden Tag von seinen Spielern - und zwar in jeden Trainingseinheit: „Die Identität, die man in einer Mannschaft schafft, muss immer wieder gestärkt werden. Man muss wachsen und sich Tag für Tag verbessern, denn wenn man sich nicht verbessert, ist man erledigt. Wer aufhört, hat verloren“, so Gasperini weiter.
Vieri über Gasperini: „Er vernichtet dich“
Normalerweise läuft Atalanta im 3-4-2-1- oder 3-4-1-2-System auf, das sich in ein 5-3-2 verwandelt, wenn man sie zurückdrängt. Das aber ist nichts, was Gasperini von seiner Mannschaft sehen möchte.
Der Trainer-Guru möchte vielmehr, dass seine Mannschaft den Ball dominiert, die Spieler nach vorne treibt und den Ball mit Tempo bewegt. Es geht um Bewegung und flüssige Spielerwechsel, was in vielerlei Hinsicht an Marcelo Bielsa erinnert. (NEWS: Alle aktuellen Infos zur Europa League)
Das gilt auch für das harte Training, das Gasperini seinen Spielern auferlegt. So sehr, dass Italiens Sturm-Legende Christian Vieri einmal sagte, dass er „dich im Training vernichtet“. Wie Bielsa, Jürgen Klopp und Pep Guardiola verlangt auch der italienische Coach von seinen Spielern unerbittliche Intensität.
„Im Training müssen meine Spieler kämpfen; diejenigen, die es nicht gewohnt sind, hart zu arbeiten, machen mir Angst. Aber aus dem Kampf entstehen die Siege. Wenn man im Training nicht läuft, läuft man auch im Spiel nicht. Und natürlich ist es wichtig, auch im Training Spaß zu haben, denn daraus ergeben sich der Spielstil und die Qualität“, so Gasperini.
Atalanta ist für sein organisiertes, laufintensives Pressing und Gegenpressing berühmt-berüchtigt und der Gegner wird dabei auf dem ganzen Platz mutig angegriffen. Die Mannschaft ist top eingespielt und funktioniert als echte Einheit. Also äußerst unangenehm zu bespielen.
In Bergamo ist der Star die Mannschaft
Vor allem aber ist Bergamo schwer auszurechnen. Denn einen Top-Star sucht man in Bergamo vergebens. Vielmehr ist die Mannschaft der Star. Gasperini geht sogar soweit und sagte einmal, jeder sei ersetzbar.
Im Sturmzentrum brilliert Duván Zapata (12 Tore, 7 Assists) als kombinationsstarker Wandspieler mit vielen Ballkontakten im Strafraum, Luis Muriel (10 Tore, 6 Assists) als dynamischer Joker.
Eine Reihe dahinter sorgen die beiden offensiven Mittelfeldspieler Mario Pasalic und Ruslan Malinovskyi für viel Kreativität, aber auch Torgefahr. Durch die Räume, die der wuchtige Zapata schafft, stoßen die aufgerückten Spieler nach und kommen zu leichten Abschlüssen. Nicht von ungefähr haben Pasalic und Malinovskyi je zehn Tore markiert.
Kein Wunder also, das Gasperinis Truppe in den vergangenen drei Spielzeiten zu den offensivstärksten Mannschaften in der Serie gehörte: 2020/21 stand eine Bilanz von 90:47 zu Buche, 2019/20 von 98:48 sowie 2018/19 von 77:46.
In der laufenden Saison aber wird Atalanta aller Voraussicht nach drei Jahren erstmals wieder die Champions-League-Qualifikation verpassen, als Tabellenachter ist der Rückstand von elf Punkten auf Juventus Turin auf Rang vier schwer einzuholen. Doch die Europa League ist noch drin.
Gosens wechselt von Atalanta zu Inter
Bis zur Winter-Transferperiode trug auch der deutsche Nationalspieler Robins Gosens das schwarz-blaue Trikot, ehe der linke Schienenspieler mit einer Kaufpflicht in Höhe von 25 Millionen an Inter Mailand verliehen wurde. Durch Boni können weitere drei Millionen hinzukommen.
Der 27-Jährige kam 2018 für 1,17 Millionen Euro Ablöse von Heracles Almelo in die Lombardei und schaffte dort auf Anhieb den Durchbruch. Gosens steht sinnbildlich für die Transfer-Strategie von Bergamo.
Unbekannte, aber hochveranlagte Spieler zu holen, die sich bei Atalanta in Ruhe entwickeln können, ehe sie den nächsten Karriereschritt wagen. Gosens‘ Pendant auf der rechte Außenbahn - Hans Hateboer - kam 2017 für eine Million Euro aus Groningen und ist mittlerweile niederländischer Nationalspieler.
Gosens‘ Abgang fangen nun der italienische U21-Nationalspieler Giuseppe Pezzella (24) und der gelernte Rechtsverteidiger Joakim Maehle (24) auf, der bei der vergangenen EM 2021 für Dänemark auf links hinten groß aufspielte.
Da Gasperinis Mannschaft viel Druck über die Außen macht, das Offensivspiel sowie das Pressing sehr laufintensiv ist, herrscht auf den Außenbahnen viel Rotation. Dafür wurde auch Eigengewächs Davide Zappacosta 2021 vom FC Chelsea zurückgeholt.
Bergamo bekannt für seine gute Nachwuchsarbeit
Neben dem hervorragenden Scouting im Profi-Bereich legt Atalanta viel Wert auf die Jugendarbeit. Nicht von ungefähr wurde die Fußballschule in Zingonia 2020 vom italienischen Verband zur besten des Landes gekürt.
Und die Talente aus Bergamo haben auch ihren Preis! Alessandro Bastoni wurde für 31,1 Millionen Euro und Roberto Gagliardini für 22,5 Mio. Euro an Inter verkauft, Andrea Conti für 24 Mio. Euro und Frank Kessié für 32 Mio. Euro an den AC Milan.
Dejan Kulusevski für 35 Mio. Euro an Juventus Turin, Amad Diallo für 21,3 Mio. Euro an Manchester United sowie Musa Barrow für 14,5 Mio. Euro an den FC Bologna. Und mit dem italienischen Jung-Nationalspieler Matteo Pessina steht das nächste große Talent vor seinem Durchbruch.
So kann RB Atalanta knacken
Nichtsdestotrotz hat aber auch Bergamo Schwachstellen: In Schwierigkeiten kommt die Defensive um Kapitän Rafael Tolói immer dann, wenn sie im Spielaufbau zu Fehlern gezwungen und mit hohem Tempo konfrontiert wird.
In solchen Situationen sind die Lombarden verwundbar, da die physisch starken Innenverteidiger Tolói, José Luis Palomino und Berat Djimsiti nicht mehr die Schnellsten sind. Einzig Juve-Leihgabe Merih Demiral bringt das nötige Tempo sowie Handlungsschnelligkeit mit.
Darüber hinaus könnte Leipzig mit geschickten Läufe in den Rücken der Dreierkette bzw. in den Grenzbereich der Zuständigkeiten der Innenverteidiger Bergamo vor Probleme stellen. Sind sich Atalantas Abwehrspieler uneins, wer wen decken soll, klingelte es in dieser Saison oft.
Und während der argentinische Schlussmann Juan Musso auf der Linie bockstark ist, lässt seine Strafraumbeherrschung zu wünschen übrig. Flanke Angeliño, Kopfball André Silva wäre ein probates Mittel für RB.
Um den Halbfinal-Einzug (ab 18.45 Uhr im LIVETICKER) aber perfekt zu machen und somit den Traum vom ersten Vereinstitel am Leben zu erhalten, wird die Mannschaft von Domenico Tedesco vor allem die nötige Intensität mitbringen müssen. Bergamo ist bekannt dafür, dass es nicht nur an, sondern auch über die Leidensgrenze hinauszugehen bereit ist.