Solche Geschichten schreibt nur der Fußball: Josip Ilicic, am Abgrund angekommen, von Depressionen und Krankheiten übermannt, einst vereinslos und beinahe 1000 Tage ohne Länderspiel, ist im Rahmen der Europameisterschaft 2024 auf die große Bühne zurückgekehrt. Im letzten Gruppenspiel gegen England rettete er seinem Heimatland Slowenien ein Unentschieden, gleichbedeutend mit dem Einzug ins Achtelfinale. Die schönste Geschichte der EM!
Die schönste Geschichte der EM
Im Stadion von Köln lief die 75. Minute, als Josip Ilicic für den völlig entkräfteten RB-Überflieger Benjamin Sesko eingewechselt wurde. Während die Engländer bereits sicher im Achtelfinale standen, ging es für Slowenien um alles. Mit Mann und Maus verteidigte die Reprezentanca, in gewohnt kämpferischer Manier, um gegen die Großmacht aus England zu bestehen und erstmals in die K.o.-Phase bei einem großen Turnier einzuziehen.
Die Ilicic-Einwechslung ging auch am Kontrahenten von der Insel nicht spurlos vorbei. Während der Routinier beim Betreten des Platzes von den Fans lautstark abgefeiert wurde, überraschte Gegenspieler Declan Rice mit einer emotionalen Geste. Der Mittelfeldspieler drehte sich in Richtung Ilicic und streckte anerkennend seinen rechten Daumen in die Höhe - zollte Respekt.
„Meine Geschichte ist auf der ganzen Welt bekannt“
Wenig später duellierten sich die beiden in einem Zweikampf miteinander - Ilicic behielt die Oberhand. Nach Abpfiff folgte ein Wortwechsel zwischen den beiden Spielern, die unterschiedlicher nicht sein könnten. „Er hat mir gesagt, dass er mich sehr respektiert. Das war schön zu hören. Meine Geschichte ist auf der ganzen Welt bekannt“, offenbarte Ilicic gegenüber Sky Italia.
Seine Geschichte? Das letzte Pflichtspiel für die Nationalmannschaft lag bis zu seiner Einwechslung ganze 955 Tage zurück. In der Zwischenzeit war das Sportliche eher zweitrangig für den 36-Jährigen, vielmehr ging es um seine mentale Gesundheit. „Ich habe mich isoliert, einfach gesagt“, sagte Ilicic bei einem seiner seltenen Auftritte vor der Presse im April.
Während seiner Zeit in Italien - er machte Station bei US Palermo, der Fiorentina und besonders Atalanta Bergamo - galt Ilicic noch als Schlüsselspieler, war nicht mehr wegzudenken.
Nicht umsonst entstand der Spitzname „The Grand Master of Kranj“. Doch der freie Fall hatte zu dem Zeitpunkt eigentlich längst begonnen, die Leidensgeschichte war bereits in vollem Gange. Die Corona-Pandemie und der Lockdown Anfang 2020 sorgten für eine Zäsur.
Ilicic bei Atalanta unter Tränen verabschiedet
Bergamo wurde von dem Virus besonders schwer getroffen. Und die Bilder von Militärtransportern, die nachts die Leichen abtransportierten, setzten Ilicic offenbar besonders zu. Er wurde depressiv, sein Klub gewährte ihm eine Auszeit in seiner Heimat, um sich zu erholen.
Sein Schicksal sorgte für große Anteilnahme unter den Fans. Ilicic kämpfte sich zurück, doch die Bilder im Kopf wurde er nicht nachhaltig los. Anfang 2022 musste er sich wieder eine Auszeit nehmen. „Unser Kopf ist ein Dschungel, es ist auch für Psychologen nicht immer leicht, ihn zu durchschauen“, sagte sein damaliger Trainer Gian Piero Gasperini.
Unter Tränen verabschiedete sich Ilicic im August 2022 von Atalanta, doch die enge Bindung blieb bestehen. Im Dezember kurz vor Weihnachten stattete er seinem Ex-Klub überraschend einen Besuch ab - und präsentierte dabei sein wiedergefundenes Lachen.
Denn: Im Oktober war Ilicic in den Profifußball zurückgekehrt, heuerte in der Heimat beim slowenischen Erstligisten NK Maribor an. Der Offensivmann hatte die Liebe zum Fußball wiederentdeckt. „Ich wollte das Spielen genießen, das war mein Ziel und das habe ich erreicht“, sagte Ilicic, der vor allem in der Schlussphase der Saison beim Vizemeister wieder zu einem absoluten Leistungsträger wurde. „Selbst jetzt laufe ich noch in der 90. Minute, also muss irgendwas ‚falsch“ sein.“
Slowenien trifft im Achtelfinale auf Portugal
‚Falsch‘ ist daran ganz und gar nichts. Genau diese Liebe und Leidenschaft benötigten die Slowenen am Dienstagabend in Köln für ihren historischen Coup. Dabei wirkte Ilicic wie ein großer Bruder für seine Mitspieler, stets Ansprechpartner. „Ich habe schon vor vielen Jahren mit diesen Jungs gespielt. Sie wussten sehr gut, wer ich bin und wie sehr ich ihnen helfen kann.“
Er gebe ihnen immer wieder Ratschläge, damit sie sich weiterentwickeln können. „Ich bin ein älterer Bruder, aber meine Mannschaftskameraden sind keine Kinder mehr wie vor ein paar Jahren. Ja, ich helfe ihnen sehr. Ich weiß sehr genau, wo ich in meiner Karriere stehe“, führte er aus. Ilicic gilt als Inspiration für viele seiner Kollegen, auch die auf der anderen Seite des Platzes, siehe Declan Rice bei den Briten.
Doch die slowenische Tormaschine hat noch lange nicht genug und möchte weiter Geschichte schreiben. Der sportliche Erfolg mit der Mannschaft stehe im Vordergrund und er helfe, wo möglich. Am Montagabend wartet mit den Portugiesen um Cristiano Ronaldo im Achtelfinale (ab 21 Uhr im Liveticker) eine enorme Herausforderung. Setzt sich das EM-Märchen der Slowenen fort?