Anthony Stewart „Tony“ Woodcock hatte seine erfolgreichste Zeit beim FC Arsenal, von 1982 bis 1986. Der Engländer trug von 1978 bis 1986 das Trikot der Three Lions. Natürlich macht sich der 68-Jährige, der in Deutschland für den 1. FC Köln und Fortuna Köln spielte, Gedanken über die bisher dürftigen Auftritte der englischen Nationalmannschaft bei der Europameisterschaft.
Bellingham? „Harter Vorwurf“
Trotz dieser Leistungen ist das Team von Trainer Gareth Southgate bis ins Halbfinale gekommen. Dort wartet am Mittwochabend in Dortmund als nächster Gegner die Niederlande (ab 21 Uhr im LIVETICKER). Vor dem Duell spricht Woodcock im exklusiven SPORT1-Interview über die Engländer, Jude Bellingham und Harry Kane.
SPORT1: Herr Woodcock, was sagen Sie zum bisherigen Auftreten der Engländer bei dieser EM?
Tony Woodcock: Das war bisher wirklich nicht gut. Da muss ich kein Fußball-Experte sein, um das zu sehen. Englands Fußball ist bisher langweilig. Das Spiel ist nicht schnell genug, es gibt zu viele Rückpässe und Pässe seitlich, als direkt vorne in den Strafraum zu kommen. Aber trotzdem haben die Three Lions einen Weg gefunden, um bis ins Halbfinale zu kommen. Es kann nur besser werden. Wir sind alle ziemlich optimistisch, obwohl die Leistungen der Mannschaft bisher nicht top waren.
England? „Ich bin verwundert“
SPORT1: Ist es nicht unglaublich, dass man mit Minimalismus so weit gekommen ist?
Woodcock: Das stimmt. Der wichtigste Bereich auf dem Fußballfeld ist der Strafraum. Und wenn du nicht dorthin kommst, ist es extrem schwer, Tore zu erzielen. Unsere Mannschaft hat das bisher nicht geschafft. Und ich weiß nicht, warum. Es heißt immer, England hat die besten Spieler und die beste Liga. Aber es spielen auch viele Ausländer dort. Und viele dieser Jungs spielen für kleinere Nationen und haben bei der EM wirklich gut gespielt. Sie haben vor allem ohne Angst gespielt.
SPORT1: Sind Sie enttäuscht über Ihre Nationalmannschaft?
Woodcock: Enttäuscht ist das falsche Wort. Ich bin verwundert. Man schaut auf unser Team und die Balance ist nicht da. Wir haben mit Cole Palmer, Bukayo Saka und Phil Foden drei sehr gute junge Spieler. Foden wurde in England Spieler des Jahres. Doch es ist nicht gut, wenn du in der Nationalmannschaft auf einer anderen Position wie im Verein spielst. Aber das ist nur die bekannte Sofa-Kritik. Es macht mehr Sinn, wenn Foden rechts spielen würde, weil er jede Woche mit Kyle Walker bei ManCity zusammenspielt. Wir brauchen ein gewisses Gleichgewicht.
SPORT1: Wie sehen Sie die Rolle von Trainer Gareth Southgate?
Woodcock: Es ist schwer, Kritik an Southgate zu üben. Jeder hat von außen eine andere Meinung, wer spielen soll und wie das Team aussehen muss. Gerade in England ist das krass. Fakt ist, dass Gareth der Cheftrainer ist. Er hatte viel Erfolg als Nationaltrainer. Ein Kritikpunkt ist, dass er zu passiv mit allem sei. Unser Spiel ist ein wenig langsam.
SPORT1: Wer gefällt Ihnen besonders im englischen Team?
Woodcock: Mit Anthony Gordon von Newcastle United gibt es einen schnellen, jungen Spieler. Das ist ein richtig guter Junge. Neben ihm haben auch einige Stürmer eine Chance verdient. Es gibt Millionen Fußballfans in England und alle überlegen: Was ist die beste Mannschaft für England? Aber so verrückt es auch klingt, wir sind im Halbfinale gegen die Niederlande.
SPORT1: Ein besonderes Verdienst von Southgate?
Woodcock: Das wäre zu viel gesagt. Aber er hat eine gute Stimmung in die Truppe gebracht und die Spieler vertrauen einander. Durch die Kritik bei dieser EM wurde der Zusammenhalt noch stärker. Das habe ich gehört. Jetzt denkt sich das Team: „Egal, was die Leute reden, egal, wie wir spielen, wir sind hier, um das Ding zu gewinnen.“ Southgate tut England irgendwie gut.
„Harry Kane wird immer Tore schießen“
SPORT1: Was sagen Sie zur Kritik an Harry Kane?
Woodcock: Harry Kane wird immer Tore schießen. Er ist immer gefährlich. Es ist gerade nicht so ganz sein Spiel, er braucht wie bei Bayern Spieler um ihn herum, die ihn mit Flanken füttern. Lasst ihn in der Nationalelf etwas tiefer kommen. Das ist gerade das Problem von Kane. Er wird nicht so eingebunden in unser Spiel. Wenn er die Bälle im Strafraum bekommt, ist er da und macht sie rein. Es ist für Kane extrem schwer.
SPORT1: Ein großes Thema war der polarisierende Jude Bellingham. Hat er Star-Allüren?
Woodcock: Dieser Junge hat unglaubliche Jahre hinter sich. Bei Borussia Dortmund und auch bei Real Madrid. Er ist mit dem Klub in der vergangenen Saison Meister und Champions-League-Sieger geworden. Man darf eins nicht vergessen: Bellingham ist gerade mal 21 Jahre alt. Alles, was er in diesen jungen Jahren gemacht hat, geht in eine erfolgreiche Richtung. Seine Leistung gegen die Schweiz war nicht so gut, aber er hat im Achtelfinale gegen die Schweiz sein Tor gemacht. Und gegen Serbien und die Slowakei hat er auch getroffen. Bellingham hat viel Selbstvertrauen und er kann mit dem Ball umgehen. Aber Bellingham hat ein Problem.
SPORT1: Welches?
Woodcock: Ihm fehlt in der Nationalmannschaft die Freiheit, die er bei Real Madrid hat. Man muss bei ihm aufpassen, denn er kann nicht überall sein. Er hat eine gesunde Arroganz auf dem Platz. Aber Bellingham ist nur auf dem Rasen arrogant. Er ist ein guter Junge und lernt immer noch dazu. Vielleicht wird er Weltfußballer des Jahres.
SPORT1: Bellingham rettete England mit einem beeindruckenden Tor im EM-Achtelfinale. Nach seinem Treffer strotzte er vor Selbstvertrauen. Nervt er mit seiner Art?
Woodcock: (lacht) Das sagt man immer über besondere Spieler. Viel Lob steht auch enormer Kritik gegenüber. Ein Spieler muss auf dem Feld eine gewisse Arroganz haben. Es lastet auch viel Druck auf seinen Schultern.
„Es kann sein, dass diese Sache wieder hochkommt“
SPORT1: Der Schiedsrichter am Mittwochabend heißt Felix Zwayer. Im Dezember 2021 verlor Borussia Dortmund mit Bellingham gegen Bayern. Die Bayern bekamen von Zwayer einen schmeichelhaften Handelfmeter zugesprochen, während Dortmund zuvor zwei verweigert wurden. Bellingham warf Zwayer nach dem Spiel indirekt Bestechlichkeit vor. Jetzt gibt es ein Wiedersehen.
Woodcock: Ich wusste gar nicht, dass es da ein Vorspiel gab. Als junger Spieler brauchst du gute Nerven, wenn du so etwas sagst. Das war schon ein harter Vorwurf von Bellingham. Ich denke, er wird auf den Platz gehen und Fußball spielen. Bellingham wird ein komisches Bauchgefühl haben. Es ist für ihn die große Chance, ins Finale zu kommen, da denkt er nicht an die Geschichte damals. Es kann aber sein, dass diese ganze Sache wieder hochkommt, wenn Zwayer in einer wichtigen Szene gegen England pfeift. Bellingham darf nicht grübeln. Es darf ihn nicht interessieren, wer der Schiedsrichter ist. Es wird für Zwayer eine schwierige Situation. Bellingham muss positiv denken. Und der Schiedsrichter hoffentlich auch.
SPORT1: Wie geht das Spiel aus?
Woodcock: England schafft das. Eins ist klar: Sie müssen gegen die Niederlande besser spielen. Gegen die Schweiz haben wir fünf Elfmeter verwandelt, das war auch neu für uns. Unsere Nationalmannschaft hat jetzt diese gewisse Siegermentalität. Ein Finaleinzug wäre unglaublich. Mein Finalwunsch war eigentlich England gegen Deutschland. Meine deutschen Freunde werden uns nun die Daumen drücken. Meine Tochter Alexis ist unser Glücksbringer.
SPORT1: Warum?
Woodcock: Sie lebt in Köln und hat von Anfang an gesagt: „Wenn Deutschland nicht im Finale stehen wird, dann England.“ Sie hat ein altes Trikot von mir aus dem Jahr 1984. Sie trägt jetzt das Trikot und bringt uns hoffentlich weiter Glück.