Dortmund, Samstagabend, 59. Spielminute im Achtelfinale zwischen Deutschland und Dänemark: Kai Havertz bekommt nahe der Mittellinie den Ball zugespielt. Der 25-Jährige hat die Kugel im Rücken und zwei Gegenspieler vor sich, doch mit einer sensationellen Bewegung nimmt er denn Ball mit der rechten Sohle nach vorne mit und lässt damit beide Dänen einfach stehen. Weltklasse!
Wie Havertz die Kritiker spaltet
Doch dann folgte ein eher schwacher Abschluss: Allein vor Keeper Kasper Schmeichel chippt Havertz den Ball Richtung Tor. Wieder Weltklasse, doch zu wenig. Der Ball segelt am langen Pfosten vorbei ins Aus.
Es ist eine Szene, die vielleicht alles beinhaltet, was man über Havertz wissen muss oder zu wissen glaubt. Er genießt den Ruf eines sensationellen Fußballers, für einen echten Knipser halten ihn viele Beobachter aber nicht.
Kein Knipser, aber enorm wichtig
Fakt ist: Die Torausbeute des DFB-Stürmers ist verbesserungswürdig. Aus dem Spiel heraus hat er während dieser EM noch nicht getroffen.
Fakt ist aber auch: Havertz ist ein wichtiger Pfeiler im deutschen Spiel. Gegnerische Verteidiger zittern vor ihm. Er schafft Räume für seine Nebenleute.
Nervenstark am Elfmeterpunkt
Und er ist mutig. Wie schon gegen Schottland schnappte sich Havertz auch gegen Dänemark den Ball und verwandelte in der 53. Minute den Handelfmeter zum 1:0 für Deutschland. In einer maximal hektischen Phase eines insgesamt verrückten Abends behielt er die Nerven und brachte das DFB-Team auf die Siegerstraße.
Später erklärte er, er habe einfach Spaß am Schießen von Elfmetern, daher sei er angetreten. Doch man darf davon ausgehen, dass Havertz auch eine gewisse Gier auf Tore zur Schau stellen wollte, die ihm einige Fans absprechen. Ein Strafstoß als Selbstvergewisserung – mit Erfolg.
Auch negative Schlagzeilen
Havertz hätte der gefeierte Held sein können, trotzdem titelte am Tag darauf der Spiegel, dass der Nationalspieler zum Matchwinner und zum Sorgenkind geworden sei. Eine Situation, die dem 25-Jährigen paradox vorkommen dürfte.
Havertz, das verkannte Genie? Ständig in der Kritik, weil er nicht dem deutschen Idealbild des „Vollblutstürmers“ à la Rummenigge, Völler, Klose entspricht?
„Wer im europäischen Fußball ist denn wirklich so ein klassischer Mittelstürmer? Erling Haaland vielleicht. Nicht einmal Harry Kane ist für mich einer. Er hat zwar einen tollen Abschluss, steht aber nicht einfach nur vorne in der Box und wartet auf den Ball. Deswegen verstehe ich die Diskussion nicht“, sagte Havertz dazu vor dem Spiel gegen Dänemark im exklusiven SPORT1-Interview. Und weiter: „Ich habe die letzten sechs Monate auf dieser Position sehr erfolgreich gespielt. Ich fühle mich vorne drin wohl und sehe mich auch langfristig auf dieser Position.“
Da sehen ihn auch seine Trainer. Arsenals Coach Mikel Arteta vertraute ihm den Platz ganz vorne an und verteidigte Havertz gegen die Kritik all jener, die brachiale Stürmertypen bevorzugen. So machen es auch die wichtigen Leute beim DFB. Bundestrainer Julian Nagelsmann verkündete, dass seine Nummer 7 intern „deutlich höher angesiedelt“ sei, als das in der Öffentlichkeit der Fall ist.
Meistens erste Wahl
Havertz hat mit 25 Jahren bereits 50 Länderspiele auf dem Buckel. Und das in einer Zeit, in der für die Nationalmannschaft in großen Turnieren reihenweise früh Schluss war. Egal ob in der Nationalmannschaft oder im Klubfußball, ganz gleich unter welchem Trainer: Havertz war meistens erste Wahl und für alle Trainer so gut wie unverzichtbar.
Auch, weil es nach oben keine Grenze zu geben scheint. Lothar Matthäus sprach bereits vor Jahren davon, dass Havertz Weltfußballer werden könne. Der Offensivmann selbst hält das ebenfalls für möglich.
„Ich habe mit Arsenal den perfekten Verein, um mich persönlich und als Fußballer weiterzuentwickeln. In manchen Spielen hat mir ein bisschen die Konstanz gefehlt. Wenn ich das ändere und eine gute Saison spiele, dann kann alles gehen“, sagte Havertz zu SPORT1.
Lob von Völler
Sportdirektor Rudi Völler schlug jüngst in dieselbe Kerbe wie der Bundestrainer und lobte Havertz ausgiebig: „Er ist enorm wichtig für die Mannschaft, die Art und Weise, wie er arbeitet, wie er die Bälle hält vorne, wie er sie fordert. Das merken auch die Mitspieler.“
Jetzt müssen es nur noch Havertz‘ Kritiker merken.