Mit seinem Auftritt bei der Pressekonferenz nach dem EM-Aus hat Bundestrainer Julian Nagelsmann mit seinen Worten eine ganze Nation berührt. So emotional hatte man den 36-Jährigen noch nie erlebt. Es war ein echter Appell an die Gesellschaft.
„Nagelsmann hat die Maske fallen lassen“
Auch Bundesliga-Mentaltrainer David Kadel war sehr angetan von Nagelsmanns Worten. Der 56-Jährige ist unter anderem auch Fernsehmoderator, Führungskräfte-Coach und Autor des Bestsellers „Was macht Dich stark?“ mit Jürgen Klopp. Im SPORT1-Interview spricht Kadel unter anderem ausführlich über Nagelsmanns Wirken bei der EM - und darüber hinaus.
SPORT1: Herr Kadel, kennen Sie eigentlich Julian Nagelsmann näher? So wie Jürgen Klopp und Marco Rose, mit denen Sie befreundet sind?
David Kadel: Leider nicht. Und ich betone leider. Ich würde Nagelsmann aufgrund der vergangenen Wochen gerne mal kennenlernen. Er überrascht mich mit so einer für den Fußball ungewöhnlichen Tiefe in seinen Interviews. Er ist noch ein junger Kerl, das darf man nicht vergessen. Kloppo ist ja 20 Jahre älter als Nagelsmann. Wenn es sich ergibt, würde ich mich wirklich gerne mal mit Julian unterhalten über seine Entwicklung und seine Werte, von denen wir ja jetzt einiges gehört haben. Wie Nagelsmann zuletzt aufgetreten ist, wäre ein Gespräch mit ihm sicher eine Wohltat, weil wir einige Schnittmengen haben.
SPORT1: Wie haben Sie Nagelsmann in den zurückliegenden Wochen wahrgenommen?
Kadel: Ich habe Nagelsmann ganz anders erlebt als beim FC Bayern. Wahrscheinlich ist dieses Tagesgeschäft beim Rekordmeister ein ganz anderes Ding. Da stumpft man mit der Zeit etwas ab. Du musst jede Woche Rede und Antwort stehen und abliefern. Dann hauen sie dich raus, wie wir das bei Thomas Tuchel erlebt haben. Dann will man plötzlich mit Tuchel wieder verlängern, das macht schon etwas mit einem Fußballtrainer. Einige meiner Trainer-Freunde würden unter diesem ständigen Vertrauensentzug leiden, weil sie einfach sensible Menschen sind. Und Nagelsmann hat jetzt, selbst im Misserfolg, Geschichte geschrieben. Ich habe ihn als sehr demütig gegenüber dieser Wahnsinnsaufgabe erlebt.
SPORT1: Wieso demütig?
Kadel: Nagelsmann hat das als sehr privilegiert empfunden, dass man sich auf ihn, mit so viel Vertrauensvorschuss festgelegt hat. Man wusste ja nicht, wie Nagelsmann bei der Nationalmannschaft funktionieren würde, aber man hat früh gespürt mit welcher Demut und beinahe kindlichen Begeisterung er an diese Aufgabe rangegangen ist. Er hat nicht auf großen Trainer gemacht, der mit Bayern Meister wurde, sondern hat sich sehr nahbar und authentisch präsentiert. Das hat mich beeindruckt. Da hat er mich an Klinsmann 2006 erinnert.
SPORT1: An Klinsmann?
Kadel: Ja. Man kann über Klinsmann sagen, was man will, aber er hat mich damals beim Sommermärchen 2006 auch positiv überrascht mit dem Satz: „Auch wenn ich eine Putzfrau treffe und von ihr etwas lernen kann, dann lerne ich gerne etwas“. Diese Haltung hat Nagelsmann auch an den Tag gelegt mit Aussagen wie: „Ich habe eine große Ehrfurcht vor diesem Job, denn da hängt ein ganzes Land dran“.
Nagelsmanns Auftritt nach EM-Aus: „So verrückt das auch klingt ...“
SPORT1: Und schon sind wir bei seiner Pressekonferenz, mit der Nagelsmann sehr beeindruckt hat.
Kadel: Fußball ist die schönste Nebensache der Welt. Aber Nagelsmann hat das konterkariert, indem er gezeigt hat, dass der Fußball eine irre große Auswirkung auf das Land haben kann, wenn er den Job gut macht. Der Fußball hat in den vergangenen Wochen gezeigt, dass er manchmal fast mehr Auswirkungen auf die Gesellschaft haben kann, als die Politik. So verrückt das auch klingt.
SPORT1: Hat der FC Bayern Nagelsmann im Gegenzug nicht gut getan?
Kadel: (lacht). Die Frage ist: „Wem tut der FC Bayern gerade gut?“ Das war schon eine Farce. Nagelsmann wird vom Hof gejagt und dann will man ihn zurück. Tuchel wird rausgeschmissen und dann fragt man ihn, ob er nicht doch bleiben will. Für jeden Kabarettisten ist das ein dankbares Thema. Da haben die Bayern eine schöne Vorlage nach der anderen geliefert. Wir erinnern uns an den letzten Spieltag der vorletzten Saison, als Kahn und Salihamidzic entlassen wurden. Da gibt es schon eine junge Historie, dass sie ihren eigenen Führungskräften nicht guttun. Und Nagelsmann hat der FC Bayern definitiv nicht gut getan. Man hat ihn nicht wertgeschätzt. Aber das haben die Bayern inzwischen sicher auch erkannt und werden mit dem empathischen Max Eberl künftig wieder „menschlicher“ auftreten.
SPORT1: War das für Nagelsmann ein großer Glücksmoment zu spüren, dass der DFB ihn halten und der FC Bayern ihn zurückwill?
Kadel: Ganz genau, mehr geht nicht. Das ist diese berufliche Position, von der wir alle träumen. Jeder lechzt doch heute nach Anerkennung. Und das Gute ist, dass Nagelsmann sich nirgendwo angebiedert hat, im Gegensatz zu vielen Anderen. Er hat diese Lässigkeit, dass er einfach mit seiner ganzen Persönlichkeit den Raum einnimmt, dem man ihm gibt und im richtigen Moment vom Glück geküsst wurde. Und er macht es sehr gut. Alle Spieler stehen hinter ihm. Ich bin Fan geworden von seiner Persönlichkeit und hätte gerne mal in der Kabine Mäuschen gespielt. Was hat Nagelsmann nur gemacht, dass die Jungs nicht mit den Augen rollen? Jungs, die schon alles erlebt haben, wie Antonio Rüdiger, im positiven Sinn ein abgezockter Profi, Manuel Neuer, Thomas Müller, Joshua Kimmich - sie alle haben Nagelsmann aus der Hand gefressen, weil er ihnen mit Empathie, Begeisterung und mit totalem Glauben begegnet ist. Note eins plus. Vielleicht hat er ja „Ted Lasso“ geguckt zur Vorbereitung (lacht). Nagelsmann hat mit seiner sensiblen Art wirklich alle mitgenommen. Und seine Tränen waren echt. Ich glaube, dass die deutschen Fans noch nie so stolz auf einen Bundestrainer waren wie jetzt.
SPORT1: Rührt dieser neue Zusammenhalt daher, dass Nagelsmann zu den Spielern absolut authentisch, offen und ehrlich ist?
Kadel: Das ist definitiv Nagelsmanns Handschrift. Er ist ein sehr authentischer Mensch, das war er schon bei Bayern. Er hasst Heuchelei und Rollenspiele. Nagelsmann zeigt uns mit seinen Aussagen in der PK über unsere gespaltene Gesellschaft seine riesengroße Sehnsucht. Und das ist ein Punkt, in dem er mich als Fan gewonnen hat. In meinem Leben bei der Zusammenarbeit mit Trainern und Spielern dreht sich auch viel um Sehnsucht und um Tiefe. Kloppo möchte Spieler inspirieren und ihnen Mut machen. Er möchte ein Vater sein und Empathie zeigen. Wir wollen alle als Mensch wahrgenommen werden. Aber im Haifischbecken Bundesliga kommt plötzlich mit Nagelsmann eine neue Lichtgestalt. Er zeigt, wie Empathie funktioniert. Und so kann man Erfolg haben, das sieht man an Kloppo, der seine Spieler tatsächlich liebt. Nagelsmann tritt ein wenig in Kloppos Fußstapfen.
„Wir deutschen Fußballfans wissen nicht, was da gerade passiert ist“
SPORT1: Was würden Sie Nagelsmann fragen, wenn Sie ihn treffen würden?
Kadel: Ich würde ihn einfach fragen: „Was hat dich zu dem gemacht, der du auf einmal bist?“ Vielleicht sagt er: „David, ich war schon immer so.“ Aber ich habe den Eindruck er hat sich in jüngster Vergangenheit sehr entwickelt.
SPORT1: Inwiefern hat Nagelsmanns Auftreten bei der PK die neue Lust im Land auf die Nationalmannschaft geweckt?
Kadel: Sehr stark. Wir deutschen Fußballfans wissen gar nicht, was da gerade passiert. Wir waren zuletzt teilweise immer noch im Schockzustand von den vielen verkorksten Testspielen. Wir kamen vom Regen in die Sonne. Und ich denke: „Wie geht das so schnell?“ Wir reden von Monaten. Und genau das ist mein Lieblingsthema, dass Menschen sich verändern. In Deutschland sind wir leider sehr zynisch. Ein Tuchel hat sehr darunter gelitten, dass jeder ihn in einer Schublade hat, da kann er machen, was er will. Da fällt mir ein Zitat von Berti Vogts ein. „Wenn ich übers Wasser laufen könnte, würden sie sagen: ‚Guck mal, schwimmen kann er auch nicht.“ Man muss Menschen im Leben eine Chance geben. Jeder macht Fehler, aber vielleicht fangen wir Deutschen mal an, daran zu glauben, dass man sich trotz Fehlern weiterentwickeln kann. Auch Tuchel hat sich verändert und jetzt Nagelsmann.
SPORT1: Die Tränen von Nagelsmann waren echt. Kann das wirklich zum Nachdenken animieren? Nach Enkes Suizid 2009 hat sich auch nicht wirklich etwas verändert.
Kadel: Ich fand Nagelsmann so ehrlich, dass ich mich gewundert habe, dass die Pressesprecherin neben ihm nicht auch mitgeweint hat. Er war sehr angefasst. Jeder, der dazu auch nur irgendetwas Negatives schreibt oder denkt, ist für mich ein Zyniker und hat das Leben nicht verstanden. Wir sollten die Masken fallen lassen. Nagelsmann hat die Maske fallen lassen. Er hat wie ein Kind seine Traurigkeit gezeigt. Vielleicht hat er selbst an Kinder gedacht? Es war eines der ehrlichsten Fußball-Interviews, die ich je gesehen habe. Wir sind es nicht gewohnt, dass einer so mit den Tränen kämpft. Aber es waren vor allem die Inhalte, dieses schöne Bild vom Nachbarn, der eine Hecke schneidet. Frag ihn doch, ob du helfen kannst, dann geht es schneller.
Bundesliga-Mentalcoach Kadel: „Nagelsmann hat uns sein Herz gezeigt“
SPORT1: Oder wie er gesagt hat, dass Deutschland früher ein Land der Vereine war ...
Kadel: Stimmt. Heute glotzt nur noch jeder auf sein Handy und ist geil auf Follower. Und die, die jetzt Nagelsmann abfeiern und sich gleichzeitig mit ihren Followern brüsten, sind für mich ohne Worte. Nagelsmann hat uns sein Herz gezeigt. Es war eine Predigt an uns alle. Das war fast schon Bundespräsident-like. Jeder sollte mal sein Handy weglegen und sich wieder für andere „echte Menschen“ interessieren. Was sind das für Dämonen, die uns da antreiben, immer nur an irgendwelche Follower zu denken? Es ist fast schon krankhaft, dass wir schöne Momente nicht mehr genießen können, ohne einen Post darüber in die Welt zu jagen, aber da fasse ich mir auch an die eigene Nase, wenn ich demnächst wieder mein Handy für ein Selfie raushole. Das hat Christian Streich auch schon oft gesagt: „Lebt doch das echte Leben!“
SPORT1: Dieser Zwiespalt zwischen Bayern-Interesse und DFB-Liebe hat Nagelsmann gutgetan, oder?
Kadel: Total. Nagelsmann ist im Reinen mit sich. Er ist momentan wahrscheinlich einer der glücklicheren Menschen in diesem Land, einmal abgesehen vom Ausscheiden. Das erinnert etwas an Kloppo, dem bisher niemand das Wasser reichen konnte. Er blieb immer bei sich. Auch nach Niederlagen konnte er mit der Mannschaft feiern. Er sagt dann immer: „I‘m fine.“ Auch Nagelsmann berührt uns jetzt. Nicht Erfolg ist das Wichtigste im Leben, sondern Begeisterung. Für die kommende Bundesliga Saison würde ich den Trainern empfehlen, trotz aller Hektik und dem großen Erwartungs-Druck, ihren Fokus ganz bewusst auf die „menschliche Komponente“ zu setzen. Denn damit hast Du als empathischer Trainer nicht nur die Mannschaft hinter Dir, sondern auch ein echtes Alleinstellungsmerkmal, weil es bei den meisten anderen viel zu kurz kommt.
Nagelsmann der neue Jürgen Klopp?
SPORT1: Ist Nagelsmann also der neue Klopp?
Kadel: Kloppo ist einzigartig. Aber Nagelsmann wandelt auf Kloppos Spuren in Sachen Empathie und Persönlichkeit. Und er begeistert Menschen, wie wir gerade erleben. Vor der EM wäre ein Viertelfinal-Aus ein Misserfolg gewesen. Aber jetzt redet keiner darüber. Alle reden über die neue Familie Nationalelf und Nagelsmanns berührende Tränen.
SPORT1: Wir können in diesen Tagen alle froh sein, dass der Fußball für einen kurzen Moment innehält und sich für die Menschlichkeit schüttelt. Wie sehen Sie es?
Kadel: Man kann es nicht schöner sagen. Der Fußball hält für einen Moment inne, zeigt Herz und erinnert sich an die Menschlichkeit.
David Kadel arbeitet seit 20 Jahren als Mental-Trainer mit Fußball-Profis und berät Unternehmen als Führungskräfte-Coach. Kadel hat gerade das Mutmach-Buch „WIE MAN RIESEN BEKÄMPFT!?“ geschrieben, das er bei seiner Tour durch ganz Deutschland (mit Fußballstars wie Joshua Kimmich, Sebastian Rode, Frank Schmidt, Marco Rose, Sebastian Kehl u.v.a.) an krebskranke Kinder und Jugendliche in Jugend-Psychiatrien verschenkt.