Manchmal verdichten sich 90 Minuten auf einen einzigen Augenblick - und für viele war dieser Augenblick aus englischer Sicht der Schlüsselmoment des verlorenen EM-Finals gegen Spanien.
Englands Einwurf ins Unglück
„Der England-Einwurf, der 58 Jahre des Schmerzes auf den Punkt bringt“: So betitelte der renommierte Guardian am Montag einen Artikel über die verhängnisvolle Szene.
„Der Moment, in dem es gestorben ist“, schrieb ein Nutzer in einem Post auf X über die vielkommentierte Situation – den schließlich auch eine Three-Lions-Legende bissig kommentierte. Was war geschehen?
Kyle Walkers verhängnisvoller Einwurf
Es lief die 76. Spielminute, kurz nachdem Cole Palmer (73.) das 1:0 für Spanien durch Nico Williams (47.) ausgeglichen hatte.
Das Team von Gareth Southgate hatte zu diesem Zeitpunkt das Heft in der Hand, hatte Spanien nach einer längeren Ballbesitzphase fast vollzählig in die eigene Hälfte zurückgedrängt – dann jedoch gab ein Einwurf von Kyle Walker dem Spiel eine neue Richtung. Im buchstäblichen wie im übertragenden Sinne.
Walker warf den Ball nach langem Hin- und Herüberlegen rund 35 Meter zurück zu John Stones, der wiederum reichte an Torhüter Jordan Pickford weiter. Pickford schoss nach vorn, sodass es Abstoß für Spanien gab. England verlor den Ball und den Zugriff.
Zehn Minuten später folgte das 2:1 durch Mikel Oyarzabal - und auch Southgate sprach bei der Pressekonferenz von einem „Wendepunkt“ des Spiels.
Southgate spricht von „Wendepunkt“
„Es gab diesen Moment, in dem wir im gegnerischen Drittel Einwurf hatten und die definitive Gelegenheit, den Ball dort zu halten, aber wir haben zurückgespielt“, konstatierte Southgate: „Und dann gab es eine lange Zeit, in der wir den Ball nicht mehr bekamen. Das war ein Wendepunkt, wenn man so will, ja.“
Southgate hat bekanntlich eigene, schmerzhafte Erfahrungen mit traumatischen Momenten der englischen Fußballgeschichte: Sein verschossener Elfmeter gegen Deutschland im Halbfinale der Heim-EM 1996 ist Geschichte – verewigt im Fußballsongklassiker „Three Lions“ von den Lightning Seeds und dem dort reproduzierten Originalkommentar („Gareth Southgate, the whole of England is with you – oh it‘s saved! Saved! Saved!“).
Aus den damals besungenen „30 years of hurt“ sind mittlerweile 58 Jahre ohne Titel seit der WM 1966 geworden. Die verkorkste Einwurf-Situation hatte ihren Anteil daran - wenngleich Southgate relativierte: Letztlich sei nicht eine einzelne Situation, sondern Erschöpfung und ein „Mangel an Energie“ in seinem Team der entscheidende Faktor gewesen.
Der Einwurf ist nun trotzdem ein großes Diskussionsthema, bei X kommentierte auch Ex-Nationalspieler Jamie Carragher: „Southgate hat ihm gesagt, dass er zurückwerfen soll.“
Carragher, TV-Experte bei Sky, meinte es sarkastisch: Die Klubikone des FC Liverpool nahm nach dem Spiel den oft kritisierten Coach in Schutz und suchte die Schuld bei den Spielern.
Symptom eines Systemversagens?
Der Guardian sieht es anders, in dem eingangs zitierten Artikel sieht Reporter Jonathan Liew in der Einwurf-Situation ein Symptom des Versagens des Systems Southgate.
Die Struktur der starken Turniere 2018 bis 2022 sei „zusammengebrochen“, analysierte Liew: „Bei seinem Versuch, jeden Tropfen individueller Klasse seines Kaders auszuwringen, hat Southgate das Prinzip gemeinsamer Verantwortung weitgehend abgeschafft.“
Southgate habe Topspielern wie Jude Bellingham, Harry Kane oder auch Phil Foden Freiheiten gewährt, „ihre eigenen Abenteuer auf den Platz zu suchen, sich durch das Spiel zu fühlen, ihrer eigenen Entscheidungsfähigkeit zu vertrauen.“
In diesem Moment seit die Verlagerung der Verantwortung fatal gewesen: Southgates Philosophie habe „einige der unvergesslichsten individuellen Momente des englischen Fußballs kreiert, aber sie bedeutet leider auch, dass ab und zu passiert, dass Kyle Walker einen Ball 35 Meter zurückwirft“.