Alain Sutter erfreut sich gerade an den Spielen der Europameisterschaft. Der Schweizer fiebert dem Duell zwischen der deutschen Nationalmannschaft und seinem Land am Sonntag entgegen (ab 21.00 Uhr im LIVETICKER).
Schweiz-Ikone: „Das zeichnet Xhaka aus“
Zu seiner aktiven Zeit spielte Sutter in der Bundesliga für den 1. FC Nürnberg, den FC Bayern und den SC Freiburg. Für die Schweiz lief er zwischen 1985 und 1996 auf. Zuletzt war er als Sportchef beim FC St. Gallen tätig, nach sechs Jahren kam es im Januar zur Trennung.
Im exklusiven SPORT1-Interview spricht der 56-Jährige über die entscheidenden Spieler auf der deutschen und der Schweizer Seite. Dabei gerät er ins Schwärmen, wenn es um Bundestrainer Julian Nagelsmann geht.
Sutter lobt Schweizer Nationalmannschaft
SPORT1: Herr Sutter, wie bewerten Sie die bisherige EM?
Alain Sutter: Bisher ist diese Europameisterschaft sehr attraktiv. Es gibt viele gute, enge und ausgeglichene Spiele. Als Fußballfan gefällt mir die EM bisher wirklich sehr.
SPORT1: Und wie sehen Sie Ihre Schweizer?
Sutter: Absolut positiv. Es war im Vorfeld nicht so klar, in welche Richtung es geht. Es gab viele Fragezeichen und die Qualifikation war auch nicht so überzeugend. Bisher präsentieren sich die Jungs sehr gut. Das Spiel gegen Ungarn war extrem stark. Und gegen die Schotten, die nach dem Deutschland-Spiel eine tolle Reaktion gezeigt haben, haben sich meine Schweizer auch sehr gut präsentiert. Es gab in beiden Spielen eine gute Intensität, was enorm wichtig war.
SPORT1: Was lief im Vorfeld denn nicht so rund?
Sutter: Man hat geglaubt, dass man die Gruppe souveräner übersteht. Man war der Favorit, hat aber die Spiele nicht in der Souveränität gespielt, wie man es in der Schweiz dachte.
SPORT1: Wie beurteilen Sie Trainer Murat Yakin? Ist er so streng, wie es oft heißt?
Sutter: Ich würde es nicht streng nennen, sondern konsequent. Das trifft es besser. Murat hat eine klare Idee vom Fußball und wie er spielen will. Und die setzt er sehr konsequent um. Er scheut sich auch nicht, harte Entscheidungen zu treffen, von denen er überzeugt ist, dass sie richtig sind für den Erfolg. Murat handelt so, wie er glaubt, dass ihm das den Erfolg garantiert. Ich mag seine Art und seine klare Linie.
„Die Schweiz muss sich vor keiner Nation verstecken“
SPORT1: Wie sehen Sie generell die Entwicklung des Schweizer Fußballs?
Sutter: Auch das sehe ich absolut positiv. Die Schweiz war bei allen großen Turnieren dabei. Das ist für unser Land außergewöhnlich. Der Sieg im Achtelfinale gegen Frankreich bei der letzten EM und das Erreichen des Viertelfinales waren große Erfolge. Die Schweiz muss sich vor keiner Nation verstecken. So weit sind wir inzwischen, ohne den Anspruch zu haben, dass man gegen die ganz großen Nationen gewinnen muss. Generell wurde in den vergangenen Jahren im Schweizer Fußball sehr gute Arbeit geleistet, sodass man bei großen Turnieren konkurrenzfähig ist. Wir waren noch nie ein ausgesprochenes Fußballland. In der Schweiz dreht sich nicht alles um Fußball. Und doch hat man sich bei den letzten Turnieren stets für die K.o.-Runde qualifiziert. Die Entwicklung ist sehr konstant und das freut mich. Es ist erstaunlich, was in der Vergangenheit fußballerisch gezeigt wurde.
SPORT1: Ein Dreh- und Angelpunkt im Schweizer Spiel ist sicher Granit Xhaka, oder?
Sutter: Xhaka ist sehr wichtig für das Schweizer Spiel. Es ist offensichtlich, dass er der Dreh- und Angelpunkt unserer Mannschaft ist, auf und neben dem Platz. Xhaka ist eine sehr dominante Persönlichkeit und ein toller Fußballer. Er ist das wichtigste Puzzleteil in Yakins Team. Xhaka ist unverzichtbar, und er gibt den Takt vor. Er hat mit Bayer Leverkusen eine außergewöhnlich gute Saison gespielt.
SPORT1: Welchen Einfluss hat so eine lange Saison mit Pokal, Europa League eigentlich oder blendet man das für eine EM aus?
Sutter: Für Spieler wie Granit ist das überhaupt kein Thema. Das hat auch mit seiner Persönlichkeit zu tun. Jeder außergewöhnliche Fußballer hat diese Facette, nämlich, dass er nicht nach dem ersten Erfolg beziehungsweise nach einer sehr erfolgreichen Saison die Füße hochlegt, sondern dass es dann erst richtig losgeht. Das ist das, was die großen, erfolgreichen Fußballer in sich tragen. Sie verlieren diesen Hunger und diese Gier nach Erfolg nie. Das zeichnet Xhaka aus. Leider gibt es auch Fußballer, die einmal kurz erfolgreich sind und diesen Hunger verlieren. Erfolg ist der größte Killer für weiteren Erfolg. Granit hat dieses Erfolgsdenken einfach in sich. Bei ihm wird durch jeden Erfolg der Hunger noch größer.
„Man sollte Granit nicht mit Xherdan vergleichen“
SPORT1: Wie sieht es mit dem Hunger von Xherdan Shaqiri aus?
Sutter: Man sollte Granit nicht mit Xherdan vergleichen. „Shaq“ ist eher der Künstler und Individualist, der wie gegen Schottland eine außergewöhnliche Aktion im Spiel hat, die entscheidend sein kann. Beide sind völlig unterschiedlich. Aber Xherdan ist nicht minder wertvoll als Granit.
SPORT1: Welchen Spieler sehen Sie als den außergewöhnlichen Fixpunkt in der deutschen Mannschaft?
Sutter: Der Fußball ist weit davon entfernt, dass nur einer den Unterschied ausmacht. Die Deutschen haben ein tolles Mannschaftsgefüge und sind vom Trainer toll zusammengestellt worden. Da gibt es ganz unterschiedliche Charaktere. Wenn man die absolute Persönlichkeit sucht, dann ist das im Moment ganz klar Toni Kroos. Auch bei ihm sieht man das dominante Auftreten und diese Selbstverständlichkeit. Vom Standing in der Mannschaft und von ihren Positionen sind sich Granit Xhaka und Toni Kroos schon sehr ähnlich.
SPORT1: Julian Nagelsmann ist der jüngste Bundestrainer in der Geschichte des DFB. Was halten Sie von ihm?
Sutter: Julian Nagelsmann finde ich ganz faszinierend. Er ist eine große Trainerpersönlichkeit. Er kam mit einem Selbstbewusstsein und einem Selbstverständnis in jungen Jahren in dieses Business rein, das war schon bemerkenswert. Auch wie er mit diesen Stars umgeht und wie er Fußball spielen lässt, ist einfach großartig. Auch wie er kommuniziert und seine Ideen transportiert, ist beachtlich. Er hat eine klare Idee vom Fußball. Nagelsmann ist wirklich ein großer Trainer. Kritiker und Nörgler gibt es immer mal, man kann es nicht immer allen recht machen. Er geht gerade seinen Weg und ich wiederhole mich da, ich finde ihn als Trainer und Persönlichkeit faszinierend. Ein Austausch mit ihm wäre sicher spannend.
SPORT1: Ist Deutschland der Topfavorit bei der EM und wo landen Ihre Schweizer?
Sutter: Deutschland ist einer der Topfavoriten, weil sie diesen Heimvorteil haben. Das könnte das Zünglein an der Waage sein, obwohl die Konkurrenz schon groß ist. Da müssen die Deutschen schon an ihre Grenzen gehen. Es wird eine enge Kiste für alle Mannschaften. Aber Deutschland hat bisher Eindruck gemacht, keine Frage. Da braucht man nicht viel Fantasie, um zu glauben, dass sie um den Titel mitspielen werden. Und die Schweiz muss sich immer an der oberen Leistungsgrenze bewegen, wenn sie diese Intensität aus den ersten beiden Spielen weiter auf den Platz bringen. Dann kann die Schweiz für jeden gefährlich sein und die Reise weit gehen.
SPORT1: Nürnberg, Bayern und Freiburg - wie blicken Sie auf Ihre Zeit in Deutschland zurück?
Sutter: Ich denke immer wieder gerne an diese Zeit zurück. Es war wunderbar, das erleben zu können. Damals war es noch nicht selbstverständlich, als Schweizer in der Bundesliga zu spielen. Es war eine bereichernde Erfahrung für mich, ein Teil der Bundesliga zu sein. Sehr lehrreich und inspirierend.
„Die Bundesliga ist für mich sicherlich reizvoll“
SPORT1: Von 2018 bis Januar dieses Jahres waren Sie sechs Jahre Sportchef in St. Gallen. Ist Ihr Wunsch, mal in der Bundesliga oder der 2. Liga zu arbeiten, in dieser Position?
Sutter: Die Bundesliga ist für mich sicherlich reizvoll. Ich bin ein Mensch, der sich sehr viele Dinge vorstellen kann. Das Richtige soll kommen.
SPORT1: Warum wollten Sie eigentlich nie Trainer werden?
Sutter: Ich habe einfach einen anderen Weg genommen. Ich war lange Fußballexperte beim Schweizer Fernsehen, habe zwei Bücher geschrieben, Vorträge gehalten, eine Coaching-Praxis geführt und Menschen in schwierigen Phasen begleitet. Ich habe viel mit Menschen, Führungskräften und Firmen gearbeitet. Der Mensch hat mich immer interessiert. Ich habe viel Zeit und Energie in diese Richtung aufgebracht. Der Trainerjob wäre sicher reizvoll gewesen für mich, aber es war dann irgendwann für mich naheliegend, im Management-Bereich tätig zu sein. Das passt am besten zu mir, andere Menschen zu unterstützen erfolgreich zu sein.