Bernard Dietz ist ein bodenständiger und zurückhaltender Mann. Zuletzt musste der 76-Jährige jedoch ins Rampenlicht treten, denn als Kapitän der Nationalmannschaft, die 1980 Europameister wurde, wurde Dietz vom Deutschen Fußball-Bund zum Eröffnungsspiel der Europameisterschaft eingeladen.
Ein ganz besonderes DFB-Idol
Die Europäische Fußball-Union (UEFA) ehrte Franz Beckenbauer fünf Monate nach dessen Tod mit einer besonderen Würdigung: Seine Frau Heidi trug vor dem Eröffnungsspiel zwischen Deutschland und Schottland den Henri-Delaunay-Pokal aufs Spielfeld - zusammen mit Dietz und Jürgen Klinsmann.
Die Legende des MSV Duisburg lud SPORT1 jetzt für ein Exklusiv-Interview zu sich nach Hause ein.
SPORT1: Herr Dietz, wie geht es Ihnen?
Bernard Dietz: Mir geht es gut. Ich kann zufrieden sein. Vor fünf Jahren hatte ich eine Herzgeschichte, habe fünf Stents, bin aber regelmäßig bei meinem Arzt. Ich bekomme meine Tabletten - morgens zwei, abends drei - und die Maschine läuft weiter. (lacht)
SPORT1: Wie sehr erfreut Sie die EM?
Dietz: Sehr. Ich schaue jedes Spiel. Ich habe ja vor 44 Jahren das Ding hochhalten dürfen. Es ist doch klar, dass ich die Nationalmannschaft immer beobachte. Und ich vergleiche auch immer, wie es früher war. Zu meinem Entsetzen hat die deutsche Mannschaft in den vergangenen Jahren nicht so gut gespielt. Aber seitdem Julian Nagelsmann Bundestrainer ist, läuft es viel besser. Er hat die Mannschaft auch verändert, indem auch jüngere, unerfahrene Spieler dazu kamen. Man spürt wieder diese Spielfreude und Begeisterung. Da wächst etwas zusammen. Du kannst nur Erfolg haben, wenn du eine Mannschaft bist. In der Vergangenheit gab es zu viele Ego-Shooter, das war krass. Jetzt macht es wieder Spaß, zuzuschauen. Ich war bei der Eröffnungsfeier dabei, da war Leben drin.
DFB-Einladung! „Mensch, das stimmt ja wirklich!“
SPORT1: Sie sind zum ersten Spiel bei der EM zusammen mit Jürgen Klinsmann und Heidi Beckenbauer eingelaufen. Frau Beckenbauer hat den Pokal gehalten. Was war das für ein Moment für Sie, der die großen Auftritte eigentlich nicht so mag?
Dietz: Es war eine große Wertschätzung für mich. Als das Schreiben vom DFB kam und ich von der Einladung erfuhr, dachte ich zuerst, ich werde veräppelt. Doch dann bekam ich einen Anruf aus Frankfurt und sagte zu meiner Frau: „Mensch, das stimmt ja wirklich!“. Nach so vielen Jahren, in denen ich nicht mehr im Rampenlicht stand, stand ich nochmal auf der großen Bühne. Und es war toll. Man hat meine Frau und mich beruhigt und wollte uns sogar abholen, aber wir sind dann privat gefahren. Obwohl es immerhin 680 Kilometer sind. Die Freude war groß und ich war auch etwas stolz. Ich hatte sogar etwas feuchte Augen.
SPORT1: Wie war die Begegnung mit Frau Beckenbauer?
Dietz: Es war sensationell. So eine liebe und anständige Frau. Es war, als hätten wir uns schon immer gekannt, dabei hatten wir uns persönlich noch nie getroffen. Als wir beim Essen saßen, hat sie uns sogar etwas mitgebracht. Und Heidi hat das toll gemacht. Der Pokal ist acht Kilo schwer und sie hat das Ding krampfhaft festgehalten. (lacht) Als wir wieder zu Hause waren, haben wir einen Brief von Heidi bekommen mit einem Bild von ihr und Franz. Das hat uns sehr gefreut. Ich habe zwei Jahre mit Franz in der Nationalmannschaft zusammen gespielt.
„Als wäre ich in einem anderen Film“
SPORT1: War es für Sie unangenehm, auf der ganz großen Bühne zu stehen?
Dietz: Erst dachte ich: „Wow, München, Eröffnungsfeier.“ Dabei bin ich doch eigentlich nur Fußball-Rentner. Aber innerlich hat es sich gut angefühlt. Ich war allerdings schon angespannt. Ich habe den Stadionsprecher auf dem Weg zur Mittellinie gar nicht gehört. Es war, als wäre ich in einem anderen Film.
SPORT1: Wie haben Sie die Geste von Frau Beckenbauer gesehen, als sie einen Kuss hoch zu ihrem Franz schickte?
Dietz: Das war eine schöne Geste. Damit wollte sie zeigen: „Mein lieber Franz, ich bin jetzt für dich hier.“
SPORT1: Wie bewerten Sie das 1:1 gegen die Schweiz? Jetzt geht es für die deutsche Elf gegen Dänemark…
Dietz: Das war kein Dämpfer. Das ist eher ein Weckruf vor dem Achtelfinale. Wenn du Europameister werden willst, muss du ohnehin jeden schlagen, der sich dir da in den Weg stellt. 1980 hatten wir das Problem auch. Da haben wir die ersten beiden Spiele auch gewonnen und das dritte Unentschieden gespielt. Die Euphorie ist weiter da, die Jungs sehen aber jetzt, dass es nicht im Hurra-Stil weiter geht. Jetzt geht es gegen Dänemark um die Wurst. Das wird ein schweres Spiel. Man darf die Dänen nicht unterschätzen, nur, weil ihnen bisher kein Sieg gelungen ist. Nagelsmann wird das den Spielern richtig vermitteln. Wir haben das Ziel, Europameister zu werden. Also muss ich es nehmen, wie es kommt.
SPORT1: Ist Deutschland der Topfavorit auf den EM-Titel?
Dietz: Unsere Mannschaft ist vorne mit dabei und überzeugt alle. Gegen die Schweiz war es ein schwächeres Spiel der Deutschen, aber wichtig ist der Gruppensieg. Natürlich sind wir der Favorit auf den Titel. Aber die Franzosen, Spanier und Engländer muss man auch dazu zählen. Unser Team wirkt sehr homogen, für die jungen Spieler ist das Turnier etwas ganz Besonderes. Man spürt, dass der eine für den anderen da ist. Es ist ein Feeling wie 2006. Bei der Weltmeisterschaft 1978 in Argentinien war es schwierig. Wir waren 1974 Weltmeister geworden und waren 1978 eigentlich keine Mannschaft. Wir waren damals fünf Wochen auf einem Militärgelände einkaserniert. 1980 war das alles irgendwie lockerer, da durften wir auch mal eine Runde schwimmen.
„Ich habe Matthäus zu seinem DFB-Debüt verholfen“
SPORT1: Jupp Derwall hat die Zügel da auch mal lockerer in der Hand gehalten?
Dietz: Ganz genau. Da war ich sehr stolz, Kapitän dieser Mannschaft gewesen zu sein. Ich war ein kommunikativer Kapitän, habe alle immer mit einbezogen. Es war eine tolle Truppe mit Manni Kaltz, Kalle Rummenigge und dem jungen Matthäus, der damals erst 18 Jahre alt war. Ähnlich wie bei dieser EM waren wir vor dem Turnier kein Topfavorit. Damals wurden alle Kapitäne zu einem Media-Day nach Herzogenaurach eingeladen und nach ihrem Ziel bei dem Turnier gefragt. Als ich gefragt wurde, habe ich nur gesagt: „Ich habe ein Ziel, ich will Europameister werden.“ Alle haben mich etwas schräg angeschaut.
SPORT1: Gibt es eine Anekdote aus Ihrer Zeit als DFB-Kapitän?
Dietz: Die gibt es. Ich habe Matthäus zu seinem DFB-Debüt verholfen. Horst Hrubesch ist in den Kader gerutscht, weil Klaus Fischer sich das Bein gebrochen hatte. Im zweiten Spiel gegen die Niederlande führten wir 3:0. Es lief also alles super. Es waren noch 20 Minuten zu spielen und ich signalisierte dem Trainer, dass ich Adduktorenprobleme hätte. Aber ich hatte nichts. So konnte Matthäus eingewechselt werden, doch er verursachte einen Elfmeter und es stand 3:1. Kurz danach fiel das 3:2 und es waren noch zehn Minuten zu spielen. Wegen Matthäus habe ich Blut und Wasser geschwitzt. Zum Glück ging das Ding nicht in die Hose.
„Nagelsmann tut Deutschland einfach gut“
SPORT1: Zurück zum aktuellen Team. Ist Nagelsmann die Rettung für die Nationalmannschaft?
Dietz: Er ist auf dem besten Weg dahin. Nagelsmann tut Deutschland einfach gut. Er kann mit den Spielern gut umgehen und macht es nicht so kompliziert. Der heutige Fußball wird zu sehr zu einer Wissenschaft. Du musst ja studiert haben, wenn du heute Fußball spielen willst. Das kann es doch nicht sein. Fußball ist einfach. Und das weiß Nagelsmann. Er nimmt alle Spieler mit und gibt ihnen ein gutes Gefühl. Dass er mit Sandro Wagner auch auf sein Laptop schaut, ist okay. (lacht)
SPORT1: War es also ein guter Schachzug, Wagner zum Co-Trainer zu machen?
Dietz: Sandro Wagner ist ein entscheidendes Puzzleteil. Ein richtig guter Junge, das perfekte Bindeglied zwischen Nagelsmann und dem Team. Wagner könnte ja noch Fußball spielen, er kann gut auf die Mannschaft zugehen. Wagner und Nagelsmann passen super zusammen.
SPORT1: Jamal Musiala und Florian Wirtz passen auch super zusammen, oder?
Dietz: Von der Spielfreude sind die beiden mit Bastian Schweinsteiger und Lukas Podolski zu vergleichen. Es macht total Spaß, zuzuschauen. Manchmal stehen die Gegner da rum wie Fahnenstangen. Musiala und Wirtz spielen frech wie Oskar. Das sind zwei Jahrhundertspieler, die irgendwann da sind. Sie überlegen nicht groß, sondern wollen einfach Fußball spielen. Und Wirtz hat mit Xabi Alonso den perfekten Trainer. Musiala ist ja schon etwas länger dabei. In Leverkusen ist auch eine Mannschaft zusammengewachsen wie jetzt bei der Nationalmannschaft.
„Thomas Müller können solche Sprüche nicht reizen“
SPORT1: Nagelsmann sagte dem FC Bayern ab. Fanden Sie das gut?
Dietz: Na klar, er hat sich klar zum DFB bekannt. Natürlich lag das auch an Rudi Völler, der einen guten Einfluss auf Nagelsmann hat. Anfang 2023 hatte man das Gefühl, dass die Spieler nur rumlaufen und nicht füreinander alles geben. Das war unter Flick keine Einheit mehr.
SPORT1: Ist der größte Konkurrent der Deutschen Spanien? Deren Trainer hat jetzt gesagt: „Wir haben den besten Fußball der Welt.“
Dietz: Man kann viel erzählen. Natürlich muss er etwas raushauen. Er will sein Team auch pushen. Aber Thomas Müller können solche Sprüche nicht reizen. Er ist immer positiv eingestellt. Auch wenn er nicht immer spielt, spielt er nicht die beleidigte Leberwurst. Müller ist so wichtig.
SPORT1: Neuer zeigt, dass er auch weiter wichtig ist.
Dietz: Die Kritik an Neuer war ungerecht. Er ist auch nur ein Mensch und darf auch mal Fehler machen. Kein Torwart ist fehlerfrei. Neuer ist nach wie vor der weltbeste Torwart. Gegen die Schweiz hat er mit einer tollen Parade das 0:2 verhindert. Sein Standing ist keinesfalls angekratzt.
SPORT1: Hat man Ilkay Gündogan Unrecht getan?
Dietz: Ja. Er ist ein großartiger Spieler und macht nicht den großen Zampano, der immer wieder Sprüche raushaut. Er ist ein Kapitän, der ähnlich wie ich damals die Mitspieler in alles mit einbezieht. Gündogan ist wie der junge Dietz. In Interviews ist Gündogan oft bescheiden, er spricht aber auch Dinge klar an, wenn es nötig ist. Da kommt auch mal ein böses Wort von Gündogan.