Bezeichnend für Harry Kanes größtenteils gebrauchten Abend beim 1:0-Sieg gegen Serbien war eine Szene gleich zu Beginn des zweiten Durchgangs. Im Mittelfeld wollte Englands Kapitän mal mit einem öffnenden Pass einen gefährlichen Angriff einleiten - doch er traf nur Schiedsrichter Daniele Orsato.
England hat ein „Kane-Problem“
Es war erst Kanes dritte Ballaktion im Spiel. Im gesamten ersten Durchgang kam der Bayern-Star lediglich auf zwei Ballkontakte - so wenig wie noch nie bei einem Startelfeinsatz für England in einem Pflichtspiel.
Und das in seinem 92. Spiel für die Three Lions, die er bei seinem fünften großen Turnier zum vierten Mal als Kapitän anführt - was ebenso wie das zwölfte EM-Spiel und die 23. Partie bei einer Welt- oder Europameisterschaft eine englische Bestmarke darstellte.
Doch in seinem Rekordspiel verkam Kane über weite Strecken zum Nebendarsteller.
Kane bei Three Lions nur Nebendarsteller
Zwar nahm Kane in den zweiten 45 Minuten etwas aktiver am Spielgeschehen teil - doch sein Spiel war es weiter nicht. Es passte ins Bild, dass Serbiens Keeper Predrag Rajkovic Kanes einzige Torchance entschärfte und seinen Kopfball aus kurzer Distanz an die Latte lenkte (77.).
Gefeiert wurde der Stürmerstar allerdings von seinen Kollegen, nachdem er in der Schlussphase einen Aufsetzer von Veljko Birmancevic knapp vor der Linie per Kopf klärte (83.).
Dass der Bundesliga-Torschützenkönig in der Offensive nicht wie sonst zur Geltung kam, hatte auch mit den taktischen Vorgaben von Coach Gareth Southgate zu tun.
„Das ist von Spiel zu Spiel anders. Ich war ein bisschen höher positioniert, weil die Serben gerne Manndeckung spielen“, erklärte Kane nach dem Abpfiff. „Das wird in jedem Spiel ein bisschen anders aussehen, manchmal ein bisschen höher, manchmal ein bisschen tiefer.“
Scharfe Kritik an neuer Kane-Rolle
„Harry Kane spielt die gleiche Rolle wie Erling Haaland bei Manchester City - er ist außerhalb des Strafraums nicht aktiv und wartet auf eine Chance“, analysierte Ex-Liverpool-Star Jamie Carragher in der Halbzeit für den Telegraph. „Er hat den Ball in 45 Minuten nur zweimal berührt. Das ist nicht Kanes Spiel.“
In seiner Kolumne ging Carragher dann sogar noch weiter: „Wenn Southgate für den Rest der EM an diesem System festhält, wird das die Nummer 9 (Kane) stark beeinträchtigen. Möglicher zu sehr. Nachdem Southgate mit einem Phil-Foden-Problem in die EM gekommen war, hat er nach einem Spiel nun ein „Kane-Problem“.
Kane sei in Bestform eine torgefährliche Nummer 9, könne aber auch eine falsche 9 sowie eine kreative Nummer 10 spielen. Ihn aber „als Abräumer neu zu definieren, um so vielen Teamkollegen entgegenzukommen (...), wird die umstrittenste Entscheidung sein, die Southgate trifft, wenn England keinen Erfolg hat“, schrieb Carragher.
Lineker verteidigt Bayern-Star Kane
Dass Kane vor allem im ersten Durchgang völlig wirkungslos blieb, sorgte bei England-Idol Gary Lineker dagegen nicht für allzu große Sorgenfalten.
„Er spielt seine Rolle, er lässt sich nicht tief fallen, wie wir es in der Vergangenheit von ihm gesehen haben, er hält Serbien tief, um den kreativen Spielern hinter ihm Raum zu lassen. Er wird sich nicht um allgemeine Ballkontakte kümmern, sondern nur um die, die er machen kann, um den Ball im Netz unterzubringen“, sagte Lineker bei der BBC.
Und fast hätte Kane ja in der Schlussphase seinen Moment gehabt - einzig Serbiens Keeper stand seinem ersten EM-Tor im Weg.
Doch mit der abgewandelten Rolle für Kane kann sich ZDF-Experte Christoph Kramer überhaupt nicht anfreunden.
„Die große Stärke von Kane ist, sich fallen zu lassen“, betonte der Gladbacher Mittelfeldspieler. „Er sieht aus wie ein typischer Neuner, bewegt sich aber ja wie ein Zehner, weg von der Kette, wie ein Spielmacher. Aber dieses Element ist in diesem englischen Spiel ja gar nicht vorhanden.“
Kramer über Kane: „Man nimmt ihm seine Weltklasse-Stärke“
Kramer echauffierte sich bei seiner Analyse regelrecht. „Er ist eine klare 9, steht dann da, wird weggedeckt, nicht eingebunden“, sagte der 33-Jährige. Sein deutliches Fazit: „Man nimmt ihm seine Weltklasse-Stärke.“
Dass England im zweiten Durchgang gegen Serbien so passiv wurde, war für Kramer nicht nachvollziehbar. Er wisse nicht, „was die machen wollen. Die lassen sich immer so weit zurückfallen.“ Mit dem Weltklasse-Kader könne es sich England viel einfacher machen, meinte der 2014er-Weltmeister noch.
Und Kane? Der Kapitän war am Ende froh, den knappen 1:0-Sieg über die Zeit gerettet zu haben. „In der zweiten Halbzeit ging es nur darum, den Ball zu halten, ein paar Fouls zu vermeiden und den Sieg einzufahren“, sagte er noch.
Und er selbst nahm in seiner letzten Aktion noch etwas Zeit von der Uhr, als er in Höhe der Mittellinie einen Freistoß zog.