Eine Gartenlaube im rheinländischen Emmerich, ein paar Stücke Bienenstich stehen auf dem Tisch, dazu eine Thermoskanne voll Kaffee. Es ist der dringend benötigte Wohlfühl- und Rückzugsort für Robin Gosens.
Sogar Nagelsmann hat Mitleid
Der 29-Jährige befindet sich im Gefühlschaos, als ihn ZDF-Moderator Tommi Schmitt für eine Dokumentation Ende Mai im Elternhaus besucht. Zwei Tage zuvor hatte er mit Union Berlin eine vollkommen verkorkste Saison noch auf den letzten Metern mit dem Klassenerhalt gerettet.
Zum Lachen war dem Linksverteidiger dennoch nicht zumute: Julian Nagelsmann hatte Gosens kurz davor informiert, dass er ihn nicht mit zur EM nehmen würde.
Trotz teils starker Leistungen bei Inter Mailand in der Vorsaison inklusive Champions-League-Finale. Trotz eines bärenstarken Saisonauftakts bei Union Berlin, als er am zweiten Spieltag mit seinem ersten Bundesliga-Doppelpack zum Matchwinner mutierte. Und trotz 20 Länderspielen bis zu diesem Zeitpunkt.
Gosens „fliegt Saison bei Union um die Ohren“
„Es hat sich absolut scheiße angefühlt“, blickte Gosens auf den Zeitpunkt des Anrufes zurück. „Du kannst dich auf so einen Moment nicht vorbereiten. Wenn du alles dem unterordnest, wenn das ein absoluter Kindheitstraum ist, der sich da mal eben in Luft auflöst. Diese Gewissheit zu haben - das reißt dir alles unter den Füßen weg.“
Besonders bitter: Unter Nagelsmann machte Gosens 2024 kein Länderspiel mehr - trotz Nominierung. Die Testspiele im Frühjahr gegen Frankreich und die Niederlande sagte er wegen der Geburt des zweiten Kindes ab, dann wurde der Unioner nicht mehr in den Kader berufen.
Der große Traum geplatzt - und das im besten Fußballeralter. Der von Nagelsmann genannte Grund, ein zusätzlicher Dämpfer. „Robin, tut mir unfassbar leid, aber ich kann dich nicht mitnehmen“, so die Worte des Bundestrainers. „Glaub mir, es ist mir nicht leichtgefallen, ich schätze dich als Typ total und glaube auch, dass du der Mannschaft helfen kannst, aber die Saison bei Union fliegt dir leider um die Ohren.“
Tränenausbruch wegen Nicht-Nominierung
Dabei war Gosens nach sechs Jahren im italienischen Fußball bei Atalanta Bergamo und Inter Mailand vor der Saison bewusst nach Deutschland gewechselt, um sich für die EM auf den deutschen Radar zu bringen.
Union schien dabei die optimale Adresse für Gosens, um als Führungsspieler voranzugehen und auch seine Qualitäten abseits des Platzes unter Beweis zu stellen. Hinzu kam der emotionale Spielstil der Eisernen und die erstmalige Qualifikation für die Champions League.
Die Realität aber kam anders: Gosens schlitterte mit Union auch aufgrund der Dreifachbelastung in den Tabellenkeller, seine persönlichen Daten lesen sich mit sieben Toren und vier Assists in 37 Pflichtspielen ausbaufähig für einen offensiv denkenden Außenverteidiger.
„Ich habe für mich selber geweint, dann sofort meine Frau angerufen und gesagt: ‚Hey Schatz, ich habe es leider nicht geschafft.‘ Dann haben wir noch zwei Minuten zusammen am Telefon geweint“, erzählte Gosens weiter von dem persönlich tragischen Moment.
Dieser aber kam aus objektiver Sicht nicht ganz überraschend. Die beiden nominierten Linksverteidiger konnten in der vergangenen Saison überzeugen. Benjamin Henrichs überzeugte in Leipzig, gab mehr Assists als Gosens und qualifizierte sich mit RB erneut für die Königsklasse.
Maximilian Mittelstädt war der Shootingstar schlechthin! Als Sensations-Zweiter mit Stuttgart erlebte der Linksfuß eine Traumsaison, strotzt nur so vor Selbstvertrauen und könnte mit dem ebenfalls nominierten Chris Führich ein VfB-Tandem auf der linken Seite bilden.
Heim-EM ohne Gosens - der Kindheitstraum geplatzt
Und doch, die Enttäuschung über einen geplatzten Kindheitstraum ist nur allzu verständlich. Am möglichen Viertelfinal-Spieltag feiert Gosens seinen 30. Geburtstag.
Hinzu kommt: Gosens hätte auch für die niederländische Nationalmannschaft auflaufen können. Sein zweiter Vorname ‚Everardus‘ deutet auf seine Wurzeln hin. D
Der damalige Bondscoach Ronald Koeman hatte gar eine Woche vor Ex-Bundestrainer Joachim Löw versucht, ihn für die Elftal zu gewinnen. Die Entscheidung fiel bekanntlich anders aus.
Nach der Absage von Nagelsmann stand für Gosens erstmal fest: „Ich will mit dem ganzen Scheiß nichts mehr zu tun haben.“ Seit Dienstag steht fest: Als TV-Experte für Magenta TV wird er die EM hautnah verfolgen. Sein Debüt gibt er direkt beim Auftaktspiel der deutschen Mannschaft gegen Schottland.
„Ich habe schnell gemerkt, dass ich Lust habe, mich als Experte auszuprobieren“, wird Gosens in der Sender-Mitteilung zitiert: „Für mich war nach meiner Nicht-Nominierung klar, dass ich die EM dennoch als Fan verfolgen werde.“