Andreas Herzog ist eine Fußballlegende in Österreich. Von 1988 bis 2003 spielte er für sein Land. 1990 und 1998 nahm mit der Nationalmannschaft an zwei Weltmeisterschaften teil. In Deutschland spielte er für Werder Bremen und Bayern München. Zuletzt war Herzog Assistenztrainer von Jürgen Klinsmann bei der Nationalmannschaft von Südkorea.
„Ein starkes Statement von Rangnick“
Vor dem Start der Österreicher bei der Europameisterschaft am Montagabend gegen Frankreich (ab 21 Uhr im LIVETICKER) spricht der 55-Jährige im exklusiven SPORT1-Interview über ÖFB-Teamchef Ralf Rangnick, dessen Absage an den FC Bayern und David Alaba.
SPORT1: Herr Herzog, die deutsche Nationalmannschaft hat mit dem 5:1-Sieg im ersten Spiel gegen Schottland gleich ein Ausrufezeichen gesetzt. Was sagen Sie dazu?
Andreas Herzog: Das war schon ein prima Auftakt. Man muss das auch relativieren. Deutschland war richtig stark, aber die Schotten waren von Beginn an sehr ängstlich und haben wenig Widerstand gezeigt. Normalerweise sind sie sehr schwer zu knacken, wenn sie gewohnt defensiv stehen. Aber mit den frühen beiden Toren war das Thema erledigt. Es war ein Bilderbuchstart für Deutschland.
„Deutschland sollte auf dem Teppich bleiben“
SPORT1: In Deutschland ist die Euphorie schon riesengroß. Sollte man etwas mehr Demut zeigen?
Herzog: Man sollte in Deutschland auf dem Teppich bleiben. Es ist aber schon besser, wenn eine gewisse Euphorie entsteht, als wenn es ein schlechter Start gegen Schottland gewesen wäre. Dann wäre es sofort unruhig geworden und es hätte Kritik gehagelt. Aber die Deutschen müssen das richtig einschätzen, weil der Gegner nicht gut war. Natürlich war es eine tolle Leistung und auch in der Höhe ein verdienter Sieg. Ungarn und vor allem die Schweizer werden mehr Gegenwehr leisten.
SPORT1: Wie sehen Sie die Entwicklung unter Julian Nagelsmann?
Herzog: Er ist auf einem absolut guten Weg. Er hat sein Profil geschärft und seine Entscheidungen scheinen richtig zu sein. Ganz wichtig war natürlich, dass sie im Trainingslager im März zwei tolle Auftritte gegen Frankreich und die Türkei gezeigt haben. Vor allem gegen Les Bleus waren die Deutschen richtig stark. Aber man muss das alles erst bestätigen. Darum war es auch wichtig, dass man gegen die Schotten einen extrem guten Start hatte. Das stärkt natürlich das Selbstvertrauen. Jetzt sind die Deutschen zu 85 Prozent schon in der K.-o.-Phase. Nagelsmann hat bereits junge Spieler integriert, die zum ersten Mal bei einer EM dabei sind. Wirtz und Musiala haben mich absolut überzeugt. Beide haben schon gezaubert, das hat gut gepasst.
SPORT1: Österreich startet am Montag gegen Frankreich. Wie schätzen Sie die Nationalmannschaft ein?
Herzog: Wir waren bei den zurückliegenden Spielen extrem stark. Vor allem sind wir immer super in die Spiele reingekommen und hatten auch immer den nötigen Spielverlauf. Wir sind oft mit dem ersten Schuss 1:0 in Führung gegangen, mit dem zweiten Schuss 2:0, und danach war das Thema erledigt. Ralf Rangnick hat eine neue Philosophie in die Mannschaft gebracht, sowie eine Leidenschaft und Intensität, die mich beeindruckt.
„Da macht Österreich keiner etwas vor“
SPORT1: Und Rangnick hat ein neues Grunddenken eingebracht, oder?
Herzog: Ganz genau. Selbst bei einem Remis in der Schweiz, wo wir in der Vergangenheit immer von einem guten Resultat gesprochen hätten, war Rangnick total unzufrieden. Das zeigt die neue Denkweise in Österreich. Da hat er die Mannschaft wachrütteln wollen, indem er sagte: „Ein bisschen pressen geht nicht, entweder ganz oder gar nicht.“ Das ist schon ein gutes Zeichen, wenn ein Trainer bei einem 1:1 in der Schweiz Kritik übt. Die Mannschaft weiß auch, dass sie von der ersten Minute an marschieren muss. Wir haben nicht die individuelle Klasse wie andere Teams in unserer Gruppe, aber vom Teamgeist her, vom Spirit und von der Intensität her sind wir die beste Mannschaft. Da macht Österreich keiner etwas vor.
SPORT1: Die Euphorie in Österreich ist nach der starken EM-Qualifikation groß - aber auch die Erwartungshaltung. Ist das ein Fluch oder ein Segen?
Herzog: Es war immer so, dass eine positive Stimmung herrschte. Ich erinnere mich noch an die WM 1990, da haben wir vor dem Turnier gegen Argentinien mit Maradona 1:1 gespielt und in Spanien gewonnen. Die Niederlande, damals amtierender Europameister, haben wir im letzten Test vor der EM in Wien 3:2 besiegt. Da waren wir schon Geheimfavorit. Ähnlich verhält es sich jetzt. Nur wünsche ich der jetzigen Nationalmannschaft mehr Glück, weil wir damals nach der Gruppenphase wieder heimfahren mussten. Es war auch ein bisschen typisch österreichisch. Wenn es gut läuft, sind wir sehr schnell euphorisch, wenn es nicht so rund läuft, ist alles gleich negativ. Das war schon immer so. Das ist die österreichische Mentalität. Das Viertelfinale wäre ein Riesenerfolg.
SPORT1: Mit Sabitzer, Mwene, Grillitsch, Baumgartner und Gregoritsch spielen einige Jungs aus der Bundesliga in der Nationalmannschaft. Viel Qualität also - anders als in der Vergangenheit?
Herzog: Das hat schon unter Marcel Koller angefangen. Er hat viele Spieler dazugeholt, die in der Bundesliga oder in England gespielt haben. Jetzt ist Alaba bei Real Madrid, obwohl er verletzt ausfällt. Also, das hat sich sehr gut entwickelt. Wichtig ist auch, dass du ein Mannschaftsgefüge hast und einen Spielstil, der zum Team passt. Und mit Ralf Rangnick ist da jemand, der seit Jahren eine Red-Bull-Philosophie verfolgt. Sturm Graz spielt ähnlich. Die Top-Mannschaften, die in den vergangenen Jahren in Österreich erfolgreich waren, spielen mit dieser Philosophie, nämlich aggressives Pressing gegen den Ball. Das hat uns in der Vergangenheit im Klub-Fußball international schon geholfen.
„Rangnick hat Österreich wach geküsst“
SPORT1: Trainer Ralf Rangnick hat Österreich gut getan, oder?
Herzog: Definitiv. Rangnick hat Österreich wach geküsst. Dietmar Mateschitz hat das Imperium Red Bull aufgebaut, aber im Fußball hat Rangnick alles Entscheidende gemacht. Er hat viele junge Spieler geholt und war mit ihnen erfolgreich. Wer hätte vor zehn Jahren geglaubt, dass Spieler aus der österreichischen Liga für 20 oder 30 Millionen Euro den Verein wechseln würden? Das war ja utopisch. Man war plötzlich in der Europa League und in der Champions League erfolgreich, und dann ist das alles explodiert. Rangnick hat den Stein ins Rollen gebracht. Er kam, sah und siegte. Aber bei der EM muss er Erfolg haben. Koller war damals extrem erfolgreich, doch dann ist Österreich nach der WM-Vorrunde ausgeschieden und er wurde beschimpft. Das geht schnell in Österreich.
SPORT1: Warum kommt Rangnick so gut an bei den Österreichern?
Herzog: Weil er ein ausgewiesener Fachmann ist und eine deutsche Mentalität eingebracht hat. Nochmal: Du spielst in der Schweiz 1:1 und er ist unzufrieden. Jeder andere hätte gesagt: „Es war ja nur ein Testspiel, aber das Ergebnis war ganz okay.“ Rangnick analysiert alles knallhart und haut dazwischen. Da sind die Österreicher schon froh, dass es endlich mal einen Trainer gibt, der fordernd ist und nicht schnell zufrieden ist.
SPORT1: Hat es Sie auch überzeugt, als Rangnick auf drei Rapid-Wien-Spieler verzichtet hat, nachdem sie sich an homophoben Gesängen beteiligt hatten?
Herzog: Da blieb Rangnick auch nichts anderes übrig. Es war natürlich unglücklich, wie sich diese drei Spieler verhalten haben. Ich will das jetzt nicht schönreden, aber das wurde meiner Meinung nach etwas zu sehr aufgebauscht. Es war ein Eklat, gar keine Frage, und Rangnick hat da klare Kante gezeigt. So ist er, und das ist wichtig.
„Konnte mir nicht vorstellen, dass Hoeneß Ja sagt“
SPORT1: Wie sehr hat es Sie gefreut, dass er dem FC Bayern zuletzt abgesagt hat und Österreich treu geblieben ist?
Herzog: Für den österreichischen Fußball war das extrem wichtig. Ich konnte mir aber von Anfang an nicht vorstellen, dass Uli Hoeneß Ja sagt, wenn Ralf Rangnick einfordert, bei allen wichtigen Entscheidungen und Transfers das letzte Wort zu haben. Da habe ich mir gedacht: „Das geht nicht gut!“ Das hätte bei Bayern für Probleme gesorgt. Aber einige Monate vor einer Europameisterschaft war es natürlich ein starkes Statement von Rangnick, dass er nicht zum FC Bayern gegangen ist. Danach ist die Euphorie weiter gewachsen. Und die Mannschaft spielt sehr guten Fußball. Ich hoffe, dass wir weiterhin in Führung bleiben. Wenn der Gegner zuerst trifft und wir dann gegen einen tief stehenden Block spielen müssen, wird es schwer. Spielerisch sind wir nicht so brillant.
SPORT1: Aber nochmal gefragt: Hat Sie Rangnicks Ohrfeige für die Bayern nicht gefreut?
Herzog: Nein, überhaupt nicht. Die Bayern standen unter Druck und hätten Rangnick sehr gerne gehabt. Für Österreich wäre es eine Katastrophe gewesen. Aber Rangnick hat die Situation dann wieder optimal gelöst. Er ist ein Segen für Österreich und kommt bei uns richtig gut an. Ein Wechsel zu den Bayern hätte alles durcheinandergebracht.
SPORT1: Lassen Sie uns auch über David Alaba sprechen. Der Real-Star ist nicht bei der EM dabei, aber er ist dennoch präsent, denn gemeinsam mit Rangnick entschied sich der frühere Bayern-Star dafür, die Mannschaft als „Non-playing captain“ zu begleiten – also als nicht spielender Kapitän. Eine starke Entscheidung?
Herzog: Auf jeden Fall. Es war Ralf Rangnicks ausdrücklicher Wunsch, Alaba dabei zu haben. Das ist auch wichtig, denn er kann wichtige Tipps geben und auf eine andere Art mit den Spielern sprechen. Alaba hat so viele Titel gewonnen, und einen solchen Spieler dabei zu haben, ist besonders wertvoll, vor allem für die jüngeren Spieler. David kann als Mannschaftskollege ganz anders mit den Jungs reden. Egal, ob es um Nervosität, Druck oder persönliche Geschichten geht – niemand könnte besser helfen als David Alaba. Oft kann er mehr Einfluss nehmen als der Cheftrainer, weil junge Spieler offener mit ihm reden können.
SPORT1: Ist Alaba, obwohl er nicht spielt, von der Wertigkeit her so wichtig wie Toni Kroos?
Herzog: Beide sind so wichtig für ihre Teams, aber es wäre noch bedeutender, wenn Alaba auf dem Spielfeld stehen würde, da müssen wir gar nicht drumherumreden. Es ist schon toll, dass er dabei ist, um die Mannschaft zu pushen. Alaba kann wichtige Dinge erkennen und Einfluss nehmen. Er ist das perfekte Bindeglied zwischen Rangnick und dem Team.
„Laimer ist eine absolute Maschine“
SPORT1: Auf dem Platz werden Konrad Laimer und Marcel Sabitzer stehen. Wie wichtig sind diese beiden Spieler?
Herzog: Laimer ist eine absolute Maschine und mit seiner Dynamik beim Pressing ein extrem starker Spieler. Er hat sich spielerisch und fußballerisch weiterentwickelt. Sabitzer ist noch einen Tick kompletter. Ich kenne „Sabi“ von klein auf. Er war wie ich früher Außenstürmer und kann alles. Er kann dribbeln, sowohl rechts als auch links schießen und ist außerdem ein echtes Schlitzohr. Wenn er im zentralen Mittelfeld spielt, hat er den großen Vorteil, dass er ein blendender Fußballer ist.
SPORT1: Bei den Bayern hatte Sabitzer keine so glückliche Zeit. Zeigt er jetzt wieder seine Klasse?
Herzog: Ja. „Sabi“ ist für österreichische Verhältnisse ein absoluter Topspieler. Er ist unser komplettester Spieler. Alaba, Arnautovic und Sabitzer waren für mich immer die herausragenden Spieler Österreichs. Als ich Trainer von Israel war und gegen Österreich gespielt habe, hatte ich immer die meiste Angst vor Sabitzer. Er war immer extrem beweglich und torgefährlich. Seitdem habe ich eine sehr hohe Meinung von ihm.
SPORT1: Sie haben kürzlich gesagt, dass Sie gerne unter Rangnick gespielt hätten…
Herzog: Weil mir seine Spielweise einfach gefällt. Man hat mir immer vorgeworfen, dass ich nicht so gerne zurücklaufe. Ich habe gesagt, dass mir das richtig gut entgegengekommen wäre, dass ich mich beim Ballverlust nicht gleich umdrehen und 60 Meter zurückrennen muss, weil die Verteidiger alle tief hinten stehen geblieben sind. Sondern gleich pressen und zehn, 15 Meter im Sprint laufen, das wäre mir eher entgegengekommen. Rangnicks Spielweise hätte mir sicher zugesagt.
SPORT1: Haben Sie eigentlich eine Anekdote aus Ihrer Zeit in der Nationalmannschaft parat?
Herzog: Ich war zweimal bei einer Weltmeisterschaft dabei und denke natürlich gerne an diese Zeit zurück. Mit Toni Polster zusammenzuspielen, war immer ein absolutes Highlight. Es war immer sehr lustig. Und es hat mir großen Spaß gemacht, mit ihm auf dem Platz zu stehen. Wir haben schon die eine oder andere Geschichte miteinander erlebt. Näher möchte ich darauf aber nicht eingehen.
SPORT1: Kann Österreich zum Favoritenschreck werden?
Herzog: (lacht) Zum Schreck schon, aber bitte nicht zum Favoriten. Das wäre etwas übertrieben. Aber zum Favoritenschreck können wir sicherlich werden. Die müssen uns erst einmal schlagen. Wenn wir einen optimalen Spielverlauf haben, können wir jeden schlagen. Problematisch könnte es werden, wenn wir in Rückstand geraten. Kreative Lösungen zu finden, ist nicht gerade unsere größte Stärke. Wir verfügen über große Wucht und viel Leidenschaft. Ich denke, wir werden bei der EM schon recht gut auftreten.