Auch wenn Julian Nagelsmann nach eigenem Bekunden eigentlich kein „Riesen-Faible für Körperlichkeit“ habe, kam der resolute Einsatz von Nico Schlotterbeck beim Bundestrainer besonders gut an. „Schlotti hat brutal dazwischen gefegt“, verteilte Nagelsmann ein Sonderlob.
Einst Albtraum, nun Ideallösung?
Es war Schlotterbecks kompromisslose Begrüßung für den kurz zuvor eingewechselten Raoul Bellanova, der sich von dem schmerzhaften Duell zunächst erholen musste und kurz auf dem Rasen kauernd zurückblieb. „Dann ist es immer ein gutes Zeichen, wer noch steht“, analysierte Nagelsmann Schlotterbecks erfolgreichen Pressschlag.
Schlotterbeck? „Er hat damit andere gepusht“
„Das fand ich gut“, ergänzte der DFB-Coach. „Er hat eine super Präsenz gehabt. Er hat sofort zwei, drei Aktionen gehabt. Das hat mir gut gefallen, er hat damit auch andere gepusht, dass wir körperlich verteidigen.“
Gerade auf der linken Defensivseite ging der deutschen Mannschaft beim 2:1-Sieg im Viertelfinal-Hinspiel in der Nations League gegen Italien vor allem im ersten Durchgang die körperliche Präsenz etwas ab. David Raum hatte aufgrund seiner Emotionalität den Vorzug vor Maximilian Mittelstädt erhalten, wie Nagelsmann hinterher erklärte.
Doch beim frühen Rückstand durch Sandro Tonali hatte der Leipziger gegen Vorbereiter Matteo Politano entscheidend das Nachsehen. Nach einer auch sonst schwachen Vorstellung korrigierte Nagelsmann zur Pause seine Entscheidung, brachte aber nicht Mittelstädt, sondern überraschend den gelernten Innenverteidiger Schlotterbeck als linken Außenverteidiger.
Nagelsmann erklärt Schlotterbeck-Rolle
„Ganz einfach: Weil wir Leon (Goretzka, Anm. d. Red.) in eine offensivere Position bringen wollten und den Dreieraufbau dann einfach anders bilden mussten“, erklärte Nagelsmann seine Maßnahme. Und weil er Mittelstädts Qualitäten nicht in einem Dreieraufbau sehe, habe er sich für Schlotterbeck entschieden. Positiver Nebeneffekt: In offensiverer Rolle köpfte Goretzka das Siegtor.
Für Schlotterbeck ist die ungewohnte Rolle aber keineswegs komplett neu. Zu Saisonbeginn experimentierte Nuri Sahin beim BVB mit dem 25-Jährigen halblinks in einer Dreierreihe mit drei Innenverteidigern. Auch als klassischen Linksverteidiger einer Viererkette bot der damalige Dortmund-Coach Schlotterbeck schon auf - am 2. Spieltag in Bremen flog der Verteidiger allerdings mit Gelb-Rot vom Platz.
Experiment mit Schlotterbeck galt als gescheitert
Auch in der Nationalmannschaft galt das Experiment mit Schlotterbeck links hinten eigentlich als gescheitert. Beim 1:4-Debakel gegen Japan im September 2023 – dem letzten Spiel unter Hansi Flick – erlebte Schlotterbeck als Linksverteidiger einen rabenschwarzen Abend.
Bei den ersten beiden Gegentreffern war er jeweils zu weit weg vom Flankengeber. Mit zwei haarsträubenden Fehlpässen hätte er damals fast noch weitere Gegentore eingeleitet.
Während der EM im vergangenen Sommer reagierte Schlotterbeck allergisch auf Nachfragen zu jenem Albtraum-Abend in Wolfsburg. „Das ist jetzt anderthalb Jahre her und du sprichst es immer noch an. Das heißt, das verfolgt euch, nicht mich“, sagte er auf einer DFB-PK. „Ich kann damit umgehen, ich habe viel Kritik abbekommen. Mir ist es mittlerweile relativ egal, was da passiert ist. Das ist halt passiert damals. Ich wollte nicht, dass das passiert.“
Viel ist in der Zwischenzeit passiert. An der Seitenlinie steht beispielsweise nicht mehr Flick, sondern Nagelsmann. Aber bei der Besetzung der Linksverteidigerposition ist auch der aktuelle Bundestrainer weiterhin auf der Suche nach der Ideallösung.
Schlotterbeck sammelt Pluspunkte
Benjamin Henrichs steht wegen einer schweren Achillessehnenverletzung noch längere Zeit nicht zur Verfügung, ansonsten wechselten sich Leipzigs Raum und Stuttgarts Mittelstädt zuletzt ab. Beide zeigten aber auch in ihren Vereinen schwankende Leistungen. Robin Gosens wurde trotz starker Form nicht nominiert.
Schlotterbeck sammelte mit seinem Auftritt in San Siro Pluspunkte. Neben seiner robusten Zweikampfführung bringt er wertvolle Qualitäten in der Spieleröffnung ein, die er auch beim BVB regelmäßig unter Beweis stellt. Da auch in Joshua Kimmich rechts hinten ebenfalls ein spielstarker Akteur gesetzt ist, verfügt das DFB-Team über große Variabilität im Ballbesitz.
Zugleich sind die beiden Plätze im Abwehrzentrum quasi fest an Antonio Rüdiger und Jonathan Tah vergeben. Die Rolle als Linksverteidiger könnte für Schlotterbeck auch eine Chance auf mehr Einsatzzeit im DFB-Team sein.
Den Effekt seiner Einwechslung zur Pause hat jedenfalls auch Nagelsmann registriert. „Die Idee ist immer schön und gut, am Ende brauchst du aber Spieler, die es umsetzen und die Bock haben, reinzukommen und das Spiel verändern zu wollen“, sagte der Bundestrainer und betonte im gleichen Atemzug: „Schlotti hat ein super Spiel gemacht.“ Es könnte nicht sein letztes auf dieser Position gewesen sein.