Für die deutsche Nationalmannschaft geht es auf dem Papier um nichts mehr. Durch den 7:0-Kantersieg gegen Bosnien-Herzegowina sicherte sie sich am Samstagabend den Gruppensieg, das Viertelfinale hatte die DFB-Auswahl sogar schon vorher erreicht. „Die Konstellation in der Gruppe gibt keine extrinsische Motivation her, das ist klar“, gestand auch Bundestrainer Julian Nagelsmann vor dem Spiel in Ungarn (ab 20.45 Uhr im LIVETICKER) und schloss eine radikale Rotation nicht aus.
Übertreibt es Kimmich?
„Wir wollen auch ein bisschen Rücksicht auf die Klubs nehmen“, erklärte Nagelsmann. „Es kann sein, dass wir neun- oder zehnmal wechseln, vielleicht aber auch nur viermal. Wir müssen abwarten, wie sich die Spieler fühlen.“ Denn dass das Gastspiel in der ungarischen Hauptstadt die perfekte Möglichkeit wäre, um den Vielspielern wie Antonio Rüdiger, Joshua Kimmich, Jamal Musiala, Florian Wirtz oder Kai Havertz eine Pause zu gönnen, steht außer Frage. Bei manchen scheint der Ehrgeiz allerdings so groß zu sein, dass an Ausruhen gar nicht zu denken ist. Allen voran bei Kimmich.
Der Kapitän, der immer näher an die 100 Länderspiele heranrückt, ist wieder fit. Seinem Sprunggelenk gehe es „sehr gut“, bestätigte Nagelsmann. Kimmich war am Samstag nach einer Offensivaktion der Deutschen mit schmerzverzerrtem Gesicht liegen geblieben, fasste sich an den linken Knöchel und wurde in der 73. Minute ausgewechselt. Unmittelbar danach gab Kimmich aber schon selbst Entwarnung und erklärte, dass er gegen Ungarn wieder von Anfang an auf dem Platz stehen wolle - was Nagelsmann zumindest nicht ausschloss und auch in die Tat umsetzte. Doch ergibt das wirklich Sinn?
Geht Kimmich nur mit gutem Beispiel voran?
Dass Kimmich jedes Spiel bestreiten will, völlig egal gegen welchen Gegner, ehrt ihn. Damit geht der Mittelfeldspieler des FC Bayern München mit gutem Beispiel voran und verkörpert genau jenen Stolz, für Deutschland aufzulaufen, den viele Beobachter in all den tristen Jahren vor der Nagelsmann-Ära vermisst haben. Auch sportlich bedeutungslose Spiele ernst zu nehmen, ist ein starkes Signal des Kapitäns an seine Kollegen.
Andererseits ist der Spielplan bis Weihnachten eng getaktet. Man sollte meinen, die Spieler müssten jede Minute zum Durchatmen und Regenerieren dankend annehmen. Vor allem die der Bayern. Schließlich haben es die nächsten Wochen der Münchner in sich.
Erst steht am Freitag das Bunddesliga-Duell gegen Augsburg auf dem Programm. Danach warten mit Paris St. Germain, Borussia Dortmund und Bayer Leverkusen drei absolute Top-Gegner. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Kimmich all diesen Partien durchspielen muss. Da sowohl Aleksandar Pavlović als auch Joao Palhinha verletzt sind und noch länger ausfallen werden, hat Trainer Vincent Kompany im defensiven Mittelfeld nicht viel mehr Optionen.
Sollte Kimmich deshalb nicht lieber im Sinne des Vereins handeln und beim DFB kürzertreten? Frühere Stars wie Bastian Schweinsteiger haben Länderspiele, die keinen großen Stellenwert besaßen, gerne mal mit der Begründung sausen lassen, sie seien angeschlagen. Schweinsteiger verpasste einmal zwölf Testspiele in Serie, bestritt entsprechend zwei Jahre kein einziges Freundschaftsspiel.
Heutzutage ist die Belastung sogar noch höher. Manchester Citys Mittelfeldspieler Rodri hatte aufgrund der immer weiter ansteigenden Zahl der Spiele sogar Streiks in den Raum gestellt. Für ihn seien „40 bis 50 Spiele“ das Maximum, darüber hinaus „sinke das Niveau“, denn es sei „nicht möglich, so viele Spiele auf höchstem Level“ zu machen, sagte er - und riss sich wenig später das Kreuzband.
Warum Kimmich immer spielen will
Doch Kimmich weiß, was er seinem Körper zumuten kann und was nicht. Dass der 29-Jährige immer auf dem Platz stehen will, ist nichts Neues, dieses hohe Pensum zieht er seit vielen Jahren gnadenlos durch. Und das mit großem Erfolg: In seiner gesamten Karriere war Kimmich noch nie länger verletzt. Lediglich Ende 2022 bremste ihn ein Meniskusschaden für eineinhalb Monate aus. Sonst ist seine Krankenakte nahezu unbeschrieben.
So wird sich Kimmich wohl auch nicht mehr ändern. „Ich mache mich da bisschen unbeliebt vielleicht teilweise, weil ich einer bin, der immer gerne spielt, der gerne viele Spiele hat“, bekräftigte der DFB-Kapitän bereits vor dem letzten Lehrgang des Nationalteams im Oktober.
„Ich habe lieber eine ‚Englische Woche‘ als eine normale Woche. Es macht mehr Spaß, auf dem Platz zu stehen. Ich weiß nicht, ob man sich weniger verletzt mit weniger Spielen. Viele schwere Verletzungen sind auch oftmals Unfälle“, kommentierte er damals die stetig steigende Belastung der Profis.
Klar ist nicht zuletzt durch diese Aussagen: Kimmich ist enorm ehrgeizig und stets in der Lage, sich alle drei, vier Tage neu zu fokussieren und die 100 Prozent zu erreichen. Das hat ihn immer ausgezeichnet. Wo andere auf dem Zahnfleisch gehen und dringend eine Pause brauchen, läuft Kimmich erst richtig heiß. Das kann er auch in Ungarn wieder unter Beweis stellen.