Rund um Jamal Musiala herrschte zuletzt Unruhe, er selbst konnte allerdings gar nichts dafür. Erst wurde er überraschend nicht für den Ballon d‘Or nominiert, dann kam eine negative Einschätzung seiner sportlichen Entwicklung auf. Bayern-Legende Lothar Matthäus lässt sich davon allerdings nicht in seiner Meinung über Musiala beirren, was er im SPORT1-Interview begründet.
„Es ist nicht wie unter Tuchel“
Außerdem spricht der deutsche Rekordnationalspieler über die das DFB-Team und dessen Zukunft, an der seiner Meinung nach auch Talente wie Paul Wanner oder Aleksandar Pavlovic maßgeblich beteiligt sein werden. Was die neue Bundesliga-Saison und Matthäus‘ Ex-Klub Bayern München angeht, zeigt sich der 63-Jährige optimistisch. Allerdings müsse man den Spielern wie den Verantwortlichen an der Säbener Straße Zeit gewähren. Die Deutlichkeit einer KI-Prognose zu Bayerns Meisterschaftschancen lehnt Matthäus jedoch entschieden ab.
SPORT1: Herr Matthäus, im STAHLWERK Doppelpass auf SPORT1 hat Jan Wendt von der KI-Plattform PLAIER kundgetan, dass Jamal Musiala sich laut einer KI-Analyse nicht mehr entscheidend weiterentwickeln wird. Wie schätzen Sie die Zukunft des 21-Jährigen ein, der demnach zwar bereits jetzt „ein Weltklassespieler“ sei, allerdings nicht mehr besser werden soll?
Lothar Matthäus: Mich würde interessieren, wie die Einschätzung von Jamal Musiala vor zwei Jahren aussah. Ich sehe bei Musiala noch Luft nach oben. Dass er ein überragender Spieler ist, das wissen wir alle. Er spielt jetzt schon auf einem unglaublich hohen Niveau, aber er könnte sich im Abschluss noch ein bisschen verbessern, wo er schon besser geworden ist. Die Erfahrung wird ihm auch weiterhelfen, mit Hinblick auf Laufwege und Sprints. Er wird seine Balance finden. Das sind Dinge, die du mit 21 Jahren noch nicht abrufen kannst. Dafür brauchst du Erfahrung und Spiele. Deswegen widerspreche ich der künstlichen Intelligenz: Musiala wird sich definitiv noch weiterentwickeln!
Musiala-Zukunft: „Der FC Bayern muss die Voraussetzungen schaffen“
SPORT1: Wie ist Ihre persönliche Sicht auf Musiala? Kann er das nächste Gesicht und Aushängeschild des FC Bayern München werden und sollte daher um jeden Preis in München gehalten werden?
Matthäus: Ich kenne ihn privat als einen sehr bodenständigen Menschen, der auf dem Platz zu seinem Talent auch sehr viel Leidenschaft und Willen mitbringt. Er möchte sich verbessern, hat die höchsten Ziele und gibt sich nicht mit Platz zwei zufrieden. Er will mit der Mannschaft Titel gewinnen und dabei den Unterschied ausmachen. Wahrscheinlich denkt er auch an persönliche Titel, wie den Ballon d‘Or, der zuletzt viel im Gespräch war. Aber er weiß auch, dass das nur mit einer Mannschaft geht, die erfolgreich ist und Titel holt. Deswegen ist er aber bei Bayern München und der deutschen Nationalmannschaft gut aufgehoben: Denn das sind Mannschaften, die Titel holen können und ganz weit kommen können in ihren Meisterschaften. Als Musiala-Fan würde ich mich freuen, wenn er noch lange beim FC Bayern bleibt. Allerdings muss der FC Bayern auch die Voraussetzungen dafür schaffen, und das sind nicht nur wirtschaftliche Voraussetzungen.
SPORT1: Nicht nur beim FC Bayern, sondern inzwischen auch bei der Nationalmannschaft, spielt Aleksandar Pavlovic an der Seite von Jamal Musiala. Wie schätzen Sie seine Rolle beim DFB ein?
Matthäus: Er muss sich hinten anstellen. Ganz so schnell kann das nicht gehen, aber sein Aufstieg ist gut. Sein Verhalten und seine Leistung auf dem Platz finde ich beeindruckend. Er ist ein intelligenter Spieler, körperlich robust und kann das Spiel sehr gut lesen. Er hat große Fähigkeiten mit dem Ball am Fuß, ein gutes Auge und Positionsspiel – und jetzt macht er sogar Tore (Pavlovic traf beim 5:0 gegen Ungarn, Anm. Red.). Das sind super Voraussetzungen, um bei den Großen nicht nur mitzuspielen, sondern um dort bald sogar ein Stammspieler zu sein. Bei Bayern war er das in den ersten Spielen bereits. Für den deutschen Fußball ist er ein großer Gewinn. Julian Nagelsmann scheint das ähnlich zu sehen, dass er für einen 20-Jährigen außergewöhnliche Fähigkeiten besitzt.
Pavlovic? „Irgendwann wechselt er dann auf die Überholspur“
SPORT1: Wo sehen Sie Pavlovics Zukunft im DFB-Team?
Matthäus: Bei ihm geht es bei der deutschen Nationalmannschaft nur um die Doppel-Sechs, in der Offensive wäre die Konkurrenz noch größer. Robert Andrich spielt dort aktuell den Abräumer und Pascal Groß genießt großes Vertrauen von Nagelsmann. Deswegen ist er da hinten dran, aber schon nah dran. Irgendwann wechselt er dann auf die Überholspur, wenn die Leistung stimmt.
SPORT1: Auf der Überholspur ist aktuell auch Paul Wanner unterwegs, der während seiner Leihe in Heidenheim bislang begeistert. Kann die Bayern-Leihgabe in der Zukunft mit Pavlovic, Musiala und Wirtz eine Achse für die deutsche Nationalmannschaft bilden?
Matthäus: Schon bei den Bayern hat Wanner gezeigt, wozu er imstande ist. Bei den Profis hat er damals nicht nur mittrainiert, sondern sogar schon gespielt – und das als erst 16-Jähriger. Die Leihe nach Heidenheim war eine tolle Entscheidung von ihm und den Bayern. Dort bekommt er auf in einem ruhigeren Umfeld Spielpraxis und kann Erfahrung sammeln, um irgendwann wieder zu den Bayern zurückzukehren. Aber er ist erst so kurz dabei, ähnlich wie Pavlovic. Man sollte sie noch nicht mit Wirtz oder Musiala vergleichen.
SPORT1: Im Angriff der deutschen Nationalmannschaft steht Kai Havertz etwas in der Kritik, nachdem er gegen Ungarn einige Torchancen vergab. Wie sehen sie seine Leistung aktuell?
Matthäus: Wichtig ist, dass er überhaupt zu diesen Chancen kommt. Und Füllkrug hätte auch das ein oder andere Tor mehr machen können – oder müssen. Aber wenn wir uns das deutsche offensive Mittelfeld anschauen, dann findet man in der ganzen Welt kein besseres. Wirtz, Musiala und Havertz: Das ist die allerhöchste Qualität, die eine Nationalmannschaft aufbieten kann, auf einem Level mit den Spaniern.
SPORT1: Schließen sich Füllkrug und Havertz aus oder können sie zusammen harmonieren?
Matthäus: Durch den Rücktritt von Ilkay Gündogan ist ein Platz in der Offensive frei geworden, der durch Havertz besetzt wurde. Das ist die ideale Position für ihn, weil er kein klassischer Mittelstürmer ist. Und Deutschlands Spiel funktioniert mit einem Mittelstürmer wie Füllkrug besser, das hat man nach seinen Einwechslungen bei der EM gesehen. Außerdem ist Füllkrug zu einem Gesicht der deutschen Nationalmannschaft bei den Fans geworden, was auch hilft. Und Kai ist froh, dass er weiter hinten spielt, aber auch die Erlaubnis hat, nach vorne zu gehen. Also passt das sehr gut.
Weltmeister? „Das Ziel ist nicht utopisch“
SPORT1: Wie schätzen Sie die Zielsetzung vom Bundestrainer ein, der den Titel bei der WM 2026 anpeilt?
Matthäus: Das Ziel, das Julian Nagelsmann ausgegeben hat, ist nicht utopisch. Es liegt im machbaren Bereich, dass Deutschland in zwei Jahren Weltmeister werden kann. Vor allem, wenn man berücksichtigt, dass alle Spieler noch zwei Jahre Zeit haben, um Erfahrung zu sammeln.
SPORT1: In der Bundesliga steht der künftige Meister laut einer KI-Einschätzung bereits so gut wie fest. Demnach soll der FC Bayern mit einer Wahrscheinlichkeit von 97 Prozent Meister werden. Sehen Sie das ähnlich deutlich?
Matthäus: Die Wahrscheinlichkeit von 97 Prozent klingt sehr deutlich. Aber auch ich habe bereits vor der Saison und den zwei Siegen gesagt, dass der FC Bayern in dieser Saison Meister wird. Letzte Saison ist einfach einiges schiefgelaufen und Leverkusen hat überperformt. Wenn man deren Leistung ein bisschen nach unten rechnet und die der Bayern ein bisschen nach oben rechnet, dann könnte das funktionieren.
Bayerns Saisonstart: „Die schweren Gegner kommen erst noch“
SPORT1: 97 Prozent klingt so, als könne man die Schale bereits am Münchner Marienplatz feiern. Sehen Sie den FC Bayern so weit vor Xabi Alonso und den Leverkusenern?
Matthäus: Nein, für mich ist der FC Bayern nur leicht favorisiert. Im direkten Duell mit Leverkusen würde ich mit 60 Prozent zu 40 Prozent auf die Bayern tippen. Aber dahinter kommen ja auch noch Leipzig und Dortmund, die mitreden möchten. Und in einer Saison kann bekanntlich vieles passieren. Faktoren wie Verletzungen, Mehrfachbelastung, Rote Karten oder unglückliche Schiedsrichterentscheidungen können mithilfe der KI vermutlich nicht berechnet werden, weil man diese Komponenten einfach nicht vorhersagen kann.
SPORT1: Im Transferfenster gab es einige Abgänge und Zugänge. Auf dem Platz hat man in den ersten beiden Spielen gesehen, dass sich die Mannschaft noch finden muss. Wann schätzen Sie die derzeitige Lage der Bayern ein?
Matthäus: Der FC Bayern als Ganzes muss sich erstmal finden. Die schweren Gegner kommen ja erst noch. In drei Wochen kommt Leverkusen in die Allianz Arena. Bis dahin sollten die Bayern ein paar Schritte weiter sein als in den ersten beiden Spielen. Da ist noch nicht alles so gelaufen, wie man es sich vorgestellt hat. Die Gegner hatten noch viel zu viele Möglichkeiten. Aber am Anfang ist es das Wichtigste, dass man die Spiele irgendwie gewinnt. Mix Max Eberl, Christoph Freund und Vincent Kompany sind ja einige neue Leute da, denen Siege guttun. Es hat eben nicht nur Veränderungen auf dem Platz gegeben. Klar, es sind einige Spieler gegangen und neu dazugekommen, aber auch in der Chefetage gab es sehr viel Diskussionen. Die Transferperiode lief sicherlich nicht so, wie sich Eberl das vorgestellt hatte. Dazu hatte Kompany bisher nur die Vorbereitung mit der Mannschaft. Was sie jetzt auf dem Platz zeigen, finde ich unter dieser Berücksichtigung bereits sehr gut.
„Bin überzeugt, dass man an Goretzka gar nicht vorbeikommt“
SPORT1: Was macht es den neuen Spielern schwer, sich bei den Bayern einzufinden?
Matthäus: Die Neuzugänge waren bei der Europameisterschaft oder bei Olympia und brauchen Eingewöhnungszeit. Das war bei mir vor 30 Jahren in Italien nicht anders. Neue Sprache, neues Umfeld, neue Mentalität, neue Mitspieler, neuer Trainer. Auch die Medienwelt ist hier eine andere als beispielsweise in Heidenheim, wo Wanner sich in Ruhe entwickeln kann. Es wäre zu schön, wenn jetzt schon alles perfekt laufen würde. Aber das ist eine Sache der Unmöglichkeit. Deswegen bin ich auch abseits von Vorhersagen der KI überzeugt davon, dass Bayern die Schale wieder nach München holt. Die Mannschaft wird noch besser und sich steigern.
SPORT1: Wie beurteilen den Umgang von Vincent Kompany mit seinen Spielern bisher?
Matthäus: Mannschaft und Trainer wirken wieder wie eine Einheit. Nicht wie unter Thomas Tuchel, der durch bestimmte Aussagen einige seiner Spieler verloren hatte. Kompany ist dagegen jemand, der auf die Spieler eingeht und auf Augenhöhe mit ihnen kommuniziert. Nach außen hin hat er noch nicht einen seiner Spieler kritisiert. Er hat auch nicht gesagt, dass Leon Goretzka unter ihm weg ist, auch wenn der Verein ihn gerne verkauft hätte. Goretzka wird von seinem Trainer 100 Prozent fair behandelt werden: Wenn er Leistung bringt, dann spielt er auch. Und ich bin überzeugt, dass Leon diese Leistung irgendwann bringt, sodass man an ihm gar nicht vorbeikommt. Ich glaube an diesen Spieler. Er hat enorme Fähigkeiten, die sich jeder Trainer in seiner Mannschaft wünscht.