Die Nachricht von Manuel Neuers Rücktritt aus der Nationalmannschaft hat Fußball-Deutschland kurz den Atem geraubt. Nach 14 Jahren im DFB-Team ist nun Schluss für den 38 Jahre alten Schlussmann des FC Bayern. Andreas Köpke kennt Neuer bestens. Von 2010 bis 2021 trainierte er den gebürtigen Gelsenkirchener. 2014 wurden beide zusammen in Brasilien Weltmeister.
„Das war der Hintergedanke von Manu“
Im exklusiven SPORT1-Interview spricht der ehemalige Bundes-Torwarttrainer nun über Neuer und dessen Rücktritt.
SPORT1: Herr Köpke, was sagen Sie zur Entscheidung von Manuel Neuer, und wussten Sie es schon früher?
Andreas Köpke: Ich habe es nicht früher gewusst und habe Manu vorher auch nicht darauf angesprochen. Das sind Dinge, die er selbst entscheiden muss. Es ist ein bisschen eine Vernunftsentscheidung. Bei der nächsten WM 2026 ist er 40, und er ist jetzt Vater geworden. Es macht Sinn, sich auf Bayern zu konzentrieren, in den Länderspielpausen zu regenerieren und noch gezielter zu trainieren. Das war der Hintergedanke von Manu. Ich ziehe meinen Hut davor, weil es doch schwer ist. Denn er ist ja noch in richtig guter Form, wie man zuletzt bei der EM gesehen hat. Ich freue mich für Manu, dass er diese Entscheidung getroffen hat. Länderspiele ohne ihn werden sich komisch anfühlen. Manu ist mit sich im Reinen.
SPORT1: Kommt der Zeitpunkt überraschend für Sie?
Köpke: Nicht unbedingt. Jetzt stehen wieder Länderspiele an, und daher musste eine Entscheidung getroffen werden. Auch fairerweise gegenüber Marc-André ter Stegen. Er stand so lange hinten dran. Jetzt bekommt er endlich seine Chance. Nein, Manus Entscheidung kam nicht überraschend.
SPORT1: Hätte Neuer früher aufhören sollen? Hat er zu lange alles blockiert? Seine Leistungen waren in der vergangenen Saison nicht immer gut.
Köpke hebt Neuers Kampfgeist hervor
Köpke: Nein, das glaube ich nicht. Bei der EM hat Manu sehr gut gehalten. Die Verletzung, die er hatte und von der er sich wieder rankämpfen musste, kostete ihn auch Kraft. Er hat trotzdem eine gute Saison gespielt. Klar, gegen Real Madrid war das ein entscheidender Fehler. Aber er schaffte es, nach der schweren Verletzung wieder zurückzukommen, was nicht viele schaffen.
SPORT1: Karl-Heinz Rummenigge sagte über Neuer: „Aus meiner Sicht ist Neuer der größte Torhüter, den der deutsche Fußball je hervorgebracht hat. Er hat das Torwartspiel verändert und auf ein neues Niveau gehoben, er hat Maßstäbe gesetzt und dafür gesorgt, dass Torhüter auf der ganzen Welt seinem Stil nacheifern.“ Zu viel des Lobes?
Köpke: Neuer hat das Torwartspiel verändert
Köpke: Schon viel Lob, aber im Grundsatz stimmt es. Manu hat das Torwartspiel verändert und war der elfte Feldspieler. Bei den rund 100 Länderspielen, die Manu gemacht hat, war ich ja immer dabei. Es kamen nur wenige hinzu. Ich weiß, wie er tickt, wie er denkt und wie er sich auf Spiele vorbereitet. Man muss nur an das Länderspiel 2014 gegen Algerien denken. Das war der Wahnsinn. Da hat uns Manu im Turnier gehalten. Das war schon fantastisch. Viele Torhüter haben Manu nachgeeifert, und das Torwartspiel hat sich durch ihn wirklich verändert. Die Spielweise ist eine andere geworden. Heutzutage muss jeder Torwart Fußball spielen können, beidfüßig sein und eine gewisse Sicherheit haben. Manu hat alles vorgelebt.
SPORT1: Haben Neuers Leistungen etwas kaschiert, dass Deutschland eben nicht mehr die große Torhüter-Nation ist?
Köpke: Das wird sich jetzt zeigen. Es gibt immer weniger von meinen Jungs, die ich noch trainieren durfte. Bernd Leno, Kevin Trapp, Oliver Baumann - sie sind alle über 30. Marc-André ist 32. Es wird spannend sein zu sehen, wer sich da herauskristallisiert und wer in Manus Fußstapfen tritt, die schon sehr groß sind.
Ter Stegen? „War nicht leicht für ihn“
SPORT1: Marc-André ter Stegen schrieb nach Neuers Rücktritt: „Herzlichen Glückwunsch, Manuel Neuer, zu Deiner Karriere mit dem DFB-Team.“ Und weiter: „Für immer ein Weltmeister und eine Legende des deutschen Fußballs!“ Dazu applaudierende Hände. Überraschen Sie diese Worte des Rivalen?
Köpke: Man muss ganz ehrlich sagen, dass Marc sich all die Jahre sensationell verhalten hat. Man darf nicht vergessen, dass Manu vor den großen Turnieren auch ab und zu verletzt war (2014 hatte Neuer eine Schulterverletzung und vor der WM 2018 einen Mittelfußbruch, Anm. d. Red.) und es gab Situationen, in denen Marc sich berechtigte Hoffnungen gemacht hat zu spielen. Dann kam Manu zurück und hat aufgrund seiner Leistungen zu Recht gespielt. Noch mal: Marc hat sich immer super fair verhalten. Und es war weiß Gott nicht leicht für ihn. Aber er hat sich immer in den Dienst der Mannschaft gestellt. Chapeau! Ich weiß, wovon ich rede, denn ich habe viele Turniere als zweiter oder dritter Torwart bei der Nationalmannschaft mitgemacht, bis dann meine Chance kam. Bei Marc war es ähnlich. Und jetzt hat er die große Chance und kann noch Turniere spielen. Das hat Marc absolut verdient.
SPORT1: Wie weit sehen Sie Alex Nübel? Ist er die neue Nummer 2?
Köpke: Ob er jetzt die unumstrittene Nummer 2 ist, wird sich zeigen. Vergangene Saison beim VfB Stuttgart war er extrem stark. Er ist auch auf einem guten Weg in seiner Entwicklung. Demnächst muss er sich in der Champions League beweisen. Ich sehe ihn schon in der Lage, in Manus Fußstapfen zu treten. Wie sich das alles entwickelt, kann keiner voraussehen. Mich hat zum Beispiel auch gewundert, dass Kevin Trapp gar nicht mehr dabei war. Man muss aber auch den einen oder anderen jungen Torwart mit dazu nehmen, um ihn aufzubauen. Unter ihnen ist Nübel sicher die Nummer 1. Jetzt ist Marc aber ganz klar die Nummer 1, und ich gönne es ihm auch. Er spielt seit Jahren bei Barca auf Top-Niveau. Er hatte nur das Pech, mit Manu jemanden vor der Nase zu haben, der diesen Tick besser war.
„Auf Manu lasse ich nichts kommen“
SPORT1: Lothar Matthäus würde voll auf Nübel setzen und nicht auf Trapp. Was sagen Sie dazu?
Köpke: (lacht) Lothar hat doch zu jedem Thema seine Meinung. Wenn jemand Bauchschmerzen hat, sagt Lothar etwas dazu. Spaß beiseite. Ich sehe Nübel als einen jungen Torhüter auch hinter Marc, aber es müssen mehrere junge Keeper aufgebaut werden. Noah Atubolu vom SC Freiburg ist ein Name, der mir da einfällt. Die Zeit läuft.
SPORT1: Hat Neuer die Gesamtentwicklung bei den jungen Torhütern etwas verzögert?
Köpke: Ganz klar nein. Manu hat nichts blockiert. Wenn andere besser gewesen wären, hätten sie gespielt oder wären dabei gewesen. Darüber brauchen wir gar nicht zu reden. Auf Manu lasse ich nichts kommen. Die Karriere, die er hingelegt hat, ist sensationell. 2010 haben wir ihn bei der WM ins Tor gestellt, und seitdem war er immer dabei und wurde 2014 Weltmeister. Das Einzige, was wir beide nicht geschafft haben, war, noch mal zusammen Europameister zu werden - ich als Torwarttrainer und Manu als Spieler. Man kann nicht alles haben. Aber ich sehe nicht, dass er die Entwicklung verzögert hat. Die richtige Entwicklung findet im Verein statt. Und wenn da jemand besser ist, dann ist er bei der Nationalmannschaft dabei. Ich denke, für viele war es eher ein Ansporn, noch mal Gas zu geben und Manu nachzueifern.
Köpkes besonderer Moment mit Neuer
SPORT1: Wird es seine letzte Saison beim FC Bayern sein?
Köpke: Das muss nicht sein. Natürlich wird jetzt spekuliert, dass es seine letzte Saison bei Bayern wird. Das glaube ich weniger. Das steht noch nicht fest.
SPORT1: Gibt es den besonderen Neuer-Moment für Sie?
Köpke: Der Moment, als wir zusammen den WM-Pokal in Brasilien in den Himmel gehoben haben. Und als wir nach dem Algerien-Spiel nebeneinander in der Kabine saßen und uns über das Weiterkommen gefreut haben. Die ganze WM war ein Märchen. Bis eine Woche vor unserem ersten Spiel in Brasilien hat Manu - aufgrund seiner Schulterverletzung die er sich im Pokalfinale zugezogen hatte - nicht einmal mit mir Torwarttraining gemacht. Wir waren immer in enger Absprache mit Dr. Müller-Wohlfahrt. Und das macht einen noch stolzer, dass wir Manu so hinbekommen haben, dass er dann beim ersten Spiel im Tor stehen konnte. Auch Joachim Löw hat alles immer mitgetragen. Es gibt nicht diesen einen Manu-Moment. Wir hatten so viele tolle Erlebnisse - danke, Manu!
SPORT1: Was wünschen Sie Neuer?
Köpke: Manu ist, wie schon gesagt, Vater geworden, ich bin zweifacher Opa. Ich wünsche ihm, dass er die Zeit mit seiner Familie genießen kann, dass er verletzungsfrei bleibt und dass er die Spiele, die er noch macht, genießen kann - egal, wie lange er noch im Tor der Bayern steht.