„Erstmal bin ich glücklich, dass wir fünf Jungs dabei haben. Das ist auch eine Bestätigung für uns“, erklärte BVB-Coach Nuri Sahin auf einer Pressekonferenz am Donnerstag. Kurz zuvor hatte Bundestrainer Julian Nagelsmann sein erstes Aufgebot nach der Heim-EM bekannt gegeben. Schnell schob Sahin jedoch hinterher: „Ich hätte natürlich sehr gerne gesehen, dass Jule (Julian Brandt; Anm. d. Red.) und Niki (Niklas Süle) dabei wären, aber das ist die Entscheidung des Bundestrainers und die ist zu respektieren.“
Ewiges Talent in der Warteschlange
Doch während Süle eine total verkorkste Vorsaison spielte und so ohnehin nicht zu den Top-Anwärtern auf einen Platz im Team galt, sah die Situation bei Brandt schon anders aus. „Ich kann nur sagen, dass ich extrem zufrieden mit beiden bin“, stellte Sahin klar und meinte noch: „Ich habe nicht das Gefühl, dass ich Niki oder Julian in den Arm nehmen muss. Die wissen schon, was Sache ist und was sie liefern müssen.“ Dennoch scheint die Beziehung zwischen dem Mittelfeldspieler und der deutschen Nationalmannschaft einmal mehr keine ganz unbelastete zu sein.
Brandt: Ausgebremst von Krankheit
Zur Erinnerung: Brandt legte eine bärenstarke erste Saisonhälfte 2023 hin, damals reihte er Scorerpunkt an Scorerpunkt aneinander - was auch Nagelsmanns wohlwollend zur Kenntnis nahm. „Ich weiß nicht, wo sein Limit ist“, lobte ihn Dortmunds Sportdirektor Sebastian Kehl. Musste der Allrounder in den ersten Jahren oft auf die ungeliebte Seite ausweichen, hatte er sich in seiner fünften BVB-Spielzeit endlich einen Platz in der Schaltzentrale erkämpft. „Für mich ist das Fluch und Segen zugleich, wenn man eine Vergangenheit auf dem Flügel hat“, sagte Brandt. Über seine Positionswechsel wollte er aber „kein Fass aufmachen“.
Allerdings warf ihn im Februar dann eine schwere Erkrankung zurück. Sehr weit. Durch diese verpasste Brandt unter anderem die so erfolgreichen und im Nachgang richtungsweisenden Länderspiele gegen Frankreich und die Niederlande rund einen Monat später. Die Folge: Für den 28-Jährigen, dessen Potenzial seit jeher völlig unumstritten ist, schloss sich plötzlich die Tür zur Heim-EM. „Natürlich gibt es eine gewisse Enttäuschung, weil man eine Europameisterschaft, vor allem im eigenen Land, gerne mitnimmt“, meinte Brandt nach seiner Nicht-Nominierung sportlich: „Aber für mich wird die Welt nicht untergehen, es gibt noch viel im Leben zu erreichen.“
Was Brandt im DFB-Team noch erreichen wird, steht aber hinter einem jetzt immer größer werdenden Fragezeichen. Denn als er am Ende Mai 2016 bei einem Freundschaftsspiel gegen die Slowakei sein Debüt gab, machten sich Fans, Verantwortliche sowie Beobachter große Hoffnungen, dass der frühere Leverkusener bald eine prägende Rolle einnehmen könnte. Auch, weil er bei den Olympischen Sommerspielen 2016 neben Jungs wie Süle, Leon Goretzka oder Serge Gnabry einer der Leistungsträger war und sich beim Gewinn der Silbermedaille als starker Vorbereiter hervortat.
Dieses Problem hat Brandt im DFB-Team
Sein erstes großes Turnier mit der A-Nationalmannschaft bestritt Brandt dann zwei Jahre später beim blamablen Vorrunden-Aus in Russland. Dort zählte der Kreativspieler noch zu den Gewinnern und deutete an, wozu er in der Lage ist. Immer wieder brachte er dem träge wirkenden Spiel der Deutschen neuen Schwung nach Einwechslungen. Bei der EM 2020, die wegen der Corona-Pandemie um ein Jahr auf 2021 verschoben wurde, stand Brandt aber trotzdem nicht mehr im Kader. Ein bitterer Rückschlag.
Trotz aller Erfolge auf Vereinsebene musste sich Brandt vorwerfen lassen, dass er eine gefühlte Ewigkeit als großes Talent galt, die daran geknüpfte, hohe Erwartungshaltung aber - zumindest im DFB-Team - nicht erfüllen konnte. Und jetzt? Hat er ein großes Problem. Oder genauer gesagt sogar zwei: Florian Wirtz und Jamal Musiala. Ausgerechnet auf seinem Platz in der Zentrale wuseln die beiden größten Talente, die der deutsche Fußball gerade zu bieten hat. Eine der beiden zu verdrängen, scheint praktisch aussichtslos zu sein.
Brandt geht in Dortmund voran
Geschlossen dürfte das Thema Nationalteam für Brandt dennoch längst nicht sein. Denn in Dortmund ist er gerade nach den Abgängen von Marco Reus und Mats Hummels weiter in der Hierarchie aufgestiegen. Sein Wert fürs Team ist als Co-Kapitän hoch - auf dem Platz, aber auch daneben. Regelmäßig wird Brandt zu den Interviews vorgeschickt. Bei guten wie schlechten Resultaten ist er einer derjenigen, die immer Rede und Antwort stehen. Einer derjenigen, die sich nie wegduckt.
Kann Brandt an die überragenden Leistungen der vergangenen Hinrunde anknüpfen, wird Nagelsmann kaum drumherum kommen, über ihn nachzudenken. Schon gar nicht, weil er immer wieder betonte, wie wichtig ihm selbst das viel diskutierte Leistungsprinzip ist. Aber: wenn Brandt noch eine große Nummer im DFB-Team werden will, muss es allmählich losgehen. Im Alter von 28 Jahren läuft ihm sonst langsam die Zeit davon.