Die Tür ist nur noch einen Spalt offen! Bundestrainer Julian Nagelsmann hat Ende März, nach dem erfolgreichen Lehrgang in Frankfurt (2:1 gegen die Niederlande; 2:0 gegen Frankreich) angekündigt, auf große Rotationen im Kader im Hinblick auf die EM verzichten zu wollen: „Außer Frage steht: Falls alle gesund bleiben und so weiter performen, werden wir auf jeden Fall nicht zehn Spieler tauschen im Sommer. Eigentlich auch nicht fünf, vielleicht ein, zwei - plus Verletzte.“
Muss sich Nagelsmann korrigieren?
Spannend ist diese Aussage vor allem auch mit Blick auf die deutsche Innenverteidigung: Jonathan Tah und Antonio Rüdiger waren zuletzt gesetzt, der Frankfurter Robin Koch und Waldemar Anton (VfB Stuttgart) als Backups dabei. Doch nun drängen zwei weitere in den Kader.
Muss Nagelsmann zurückrudern?
Nach dem furiosen Finaleinzug von Borussia Dortmund fordern nicht wenige Fans und Experten die Berufung von Nico Schlotterbeck und Routinier Mats Hummels in den deutschen EM-Kader.
Das BVB-Duo war maßgeblich daran beteiligt, dass die Dortmunder im Finale der Königsklasse stehen und den größten Triumph im europäischen Klubfußball feiern können. Der Henkelpott winkt. „Mats und Nico sind zwei absolute Maschinen. Sie machen einen überragenden Job“, schwärmte BVB-Torwart Gregor Kobel nach dem Halbfinal-Triumph in Paris.
Nagelsmann hat seine Nominierungen zuletzt oft mit dem Begriff „Momentum“ erklärt. Muss der Bundestrainer nun seine Rotations-Aussage revidieren?
Innenverteidiger-Duo Rüdiger und Tah gesetzt
Trotz der Gala-Vorstellungen von Schlotterbeck und Hummels dürfte der Leverkusener Jonathan Tah und Real-Star Antonio Rüdiger als Stamm-Innenverteidiger-Duo gesetzt sein. Nagelsmann hat sich auf die Beiden festgelegt: „Die haben die Fähigkeit, dieses Gesetztsein durch gute Leistungen zu bestätigen“, lobte der 37-Jährige. Für die beiden spricht die bevorzugte Spielweise des DFB-Übungsleiters: Hoch stehen und pressen.
Etwas anders verhält es sich in Dortmund. Auch aufgrund der geringeren Top-Geschwindigkeit standen Schlotterbeck und Hummels meist etwas tiefer und glänzten mit Stellungsspiel und zuletzt auch im Spielaufbau.
Waldemar Anton dürfte, auch wegen des so oft genannten „Momentums“, der Kaderplatz sicher sein. Wackelkandidat ist Robin Koch.
SPORT1 wirft mithilfe von Sportec Solutions einen Blick auf die Zahlen und vergleicht die sechs potenziellen Innenverteidiger Rüdiger, Tah, Anton, Koch, Schlotterbeck und Hummels.
Hummels mit speziellen Qualitäten
Jonathan Tah spielt mit Leverkusen eine Ausnahmesaison. Mit seinen wettbewerbsübergreifenden sechs Toren für Bayer 04 steht er damit vor seinen Konkurrenten an der Spitze. Einzig Anton erzielte bislang noch keinen Liga-Treffer in dieser Spielzeit für seinen Verein (ein Tor im Pokal gegen Leverkusen).
Bei den vergangenen Turnieren hatte Deutschland stets genug Torchancen, kassierte aber zu viele Gegentreffer. Die Torgefährlichkeit dürfte bei der Kader-Zusammenstellung keine übergeordnete Rolle spielen. Auch wenn Mats Hummels mit seinem 1:0-Siegtreffer in Paris oder auch gegen Frankreich im Viertelfinale der WM 2014 bewiesen hat, wie entscheidend er in wichtigen Spielen auch in der Offensive sein kann.
Passmonster Tah, Schlotterbeck mit Offensivdrang
Auch bei der Passquote hat der Leverkusener Tah die Nase vorn. Stolze 96,5 Prozent seiner Bälle finden den Weg zu seinen Mitspielern. Zum Vergleich: Koch, Hummels und Anton stehen fast gleichauf bei knapp über 90 Prozent, nur Schlotterbeck liegt darunter.
Dafür hat der Dortmunder bislang die meisten langen Bälle (282) in dieser Bundesliga-Saison gespielt und lässt auch bei den Ballkontakten pro Spiel (96) die Konkurrenten deutlich hinter sich. Tah hat hier beispielweise nur 40 (!) lange Bälle gespielt (83 Ballkontakte pro Spiel).
Wie Schlotterbeck sind auch Hummels, Anton und Koch stärker im vertikalen Spielaufbau eingebunden. Tah ist auf diese Qualitäten nicht ganz so stark angewiesen, da er bei Bayer Spieler wie beispielsweise Robert Andrich oder Granit Xhaka vor sich hat, die das übernehmen - eine ähnliche Stellenbeschreibung ist wohl auch beim DFB und Nagelsmann gefragt. Denn mit der Rückholaktion von Toni Kross hat die deutsche Nationalmannschaft einen der wohl besten Aufbauspieler der Welt in ihren Reihen. Da würden die langen Bälle eines Schlotterbecks nicht gerade Sinn machen.
Überzeugt das BVB-Duo auch Nagelsmann?
Hummels und Schlotterbeck sind beim BVB eine Bank, absolvieren in Dortmund in den vergangenen Wochen nahezu jedes Spiel. Die beiden vertrauen sich blind. Schlotterbeck erklärte seine aktuelle Form auch durch das Beisein seines Nebenmannes Hummels, der ihm so viel Sicherheit gebe.
„Schlotti (Schlotterbeck; Anm. d. Red.) kommt in den letzten Jahren viel zu negativ weg. Er ist ein großartiger Verteidiger, ein richtig guter Typ und auch ein Anführer geworden“, lobte Hummels.
Dass Hummels damit nicht ganz Unrecht hat, zeigt auch ein Blick auf die Zweikampf-Statistiken. Schlotterbeck bestritt bislang nicht nur die meisten Zweikämpfe (466), sondern weist auch die beste Quote auf (65,7%). Vor allem bei den Bodenzweikämpfen sticht er die Konkurrenz auf. In der Luft hat Tah klare Vorteile.
Schlotterbeck und Hummels mit „Vollgas“ zur EM?
Entscheidend für Nagelsmann werden aber wohl nicht nur die Zahlen sein, sondern auch der Typ Spieler und wie er ins Gefüge passt.
Mit Blick auf das „Momentum“ und die Daten dürfte Robin Koch wohl wackeln und der Austauschkandidat Nummer eins sein, sollte Hummels und/oder Schlotterbeck nominiert werden. Dass Nagelsmann beide Dortmunder nominiert und dafür auf Waldemar Anton verzichtet, scheint unwahrscheinlich zu sein.
„Die Botschaft an diese Spieler ist, dass wir es jetzt gut gemacht haben und sie Vollgas geben müssen, um auf den Zug noch aufzuspringen. Am Ende müssen sie besser sein als irgendjemand, der jetzt dabei ist, in welcher Rolle auch immer. Das ist klar“, erklärte Nagelsmann Ende März.
Vollgas haben die Dortmunder Schlotterbeck und Hummels zuletzt in beeindruckender Art und Weise gegeben. Ob das reicht, wird sich nächsten Donnerstag zeigen. Dann wird Bundestrainer Julian Nagelsmann in Berlin mindestens 23, maximal aber 26 Spieler für die Heim-EM in Deutschland nominieren.