Julian Nagelsmann gilt gemeinhin als jemand, der gerne spricht. Kommunikation liegt ihm. Insofern dürfte ihm eine seiner Aufgaben als Bundestrainer relativ leichtgefallen sein: das Führen von „Rollengesprächen“. Wie ein Regisseur hat er dabei klar vor Augen, wie die Europameisterschaft zu laufen hat.
Geht Nagelsmanns Rollenplan auf?
Der 36-Jährige hat in den vergangenen Wochen immer wieder betont, dass er mit allen EM-Fahrern und auch Kader-Kandidaten intensive Gespräche geführt habe. Dabei habe er jeweils deutlich gemacht, was er von jedem einzelnen Spieler erwarte.
„Wir haben im März mit jedem Spieler ungefähr 20 Minuten über seine Rolle gesprochen. Dann hast du als Trainer auch eine Verbindlichkeit, eine Verlässlichkeit. Die Spieler saßen mir gegenüber und mussten es mir versichern“, sagte Nagelsmann bei der Vorstellung seines Kaders für die Europameisterschaft.
Nagelsmann schließt einen Pakt mit seinen Spielern
Dabei entstand der Eindruck, der Bundestrainer habe mit allen Akteuren einen regelrechten Pakt geschlossen. Nagelsmann will fördern, aber auch fordern. „Wir haben einen guten Mix zwischen sehr starken Persönlichkeiten und welchen, die sich unterordnen, die andere pushen können“, erklärte er.
Nun sind Vereinbarungen, die in Einzelgesprächen entstehen, keine völlig neuen Dinge im Fußball. Dass Nagelsmann seine Herangehensweise aber öffentlich so deutlich kommuniziert, zeigt, wie wichtig ihm dieser Punkt ist. Offenkundig will er keine Überraschungen erleben und seinen Schützlingen auch ebensolche nicht zumuten.
Müller begrüßt Vorgehensweise des Bundestrainers
Dass das ein wichtiger Punkt ist, machte auch Thomas Müller im Trainingslager der DFB-Elf in Blankenhain deutlich: „Das war schon eine gute Maßnahme“.
Und weiter: „Wir befinden uns ja mannschaftsintern in einem sportlichen Wettbewerb und in Positionskämpfen. Trotzdem ist es wichtig, grundsätzlich die erste Idee des Trainers zu kennen und zu wissen, dass man eventuell vorne- oder hintendran ist. Damit die Enttäuschungsmomente nicht eine halbe Stunde vorm Spiel kommen.“ So etwas beeinträchtige die Leistung nämlich durchaus negativ.
Man spürt, wie dankbar Müller dem Bundestrainer für diese klare Linie ist. Denn nicht immer waren die Rollen so klar verteilt. „2012 und vor allem auch 2018 hatten wir damit unsere Probleme“, erzählte Müller.
Gerade bei der EM 2012, als Borussia Dortmund Fußball-Deutschland dominierte, hätten einige BVB-Profis große Erwartungen gehabt und dann unter Jogi Löw doch nicht die gewünschte Rolle gespielt. „Da gab es natürlich schon stimmungsmäßig mehr Angespanntheit“, meinte Müller.
Nagelsmann macht den Regisseur
Das will der aktuelle Bundestrainer offenkundig tunlichst vermeiden.
Fast wie ein Regisseur besetzt Nagelsmann die Rollen für seinen Film namens Nationalmannschaft. Helden, Zauberer, Künstler, Bösewichte, Jungspunde, alte Recken, ehrliche Arbeiter, Spaßvögel und weise Dorfälteste – alles ist dabei. Jeder weiß, was von ihm erwartet wird.
Die Zeiten, in den einfach 23 gute Fußballer ins DFB-Trikot gesteckt wurden, sind vorbei. Nagelsmann hat explizit einen Kader nominiert, der größer ist als die Summe seiner Einzelteile.
Auch der geplante Besuch der Spieler eines Spezialeinsatzkommandos (SEK) passt da perfekt ins Bild.
Bei dem Event am Donnerstag gehe es laut Nagelsmann darum, „dass man eine Mannschaft vorfindet, die absolut perfekt funktionieren muss. Die in allen Situationen Lösungen haben muss, die sich gegenseitig unterstützt. Die im Thema Kommunikation ganz weit vorne ist. Da dürfen keine Fehler passieren.“
So mancher Fan malt sich beim Gedanken an einen SEK-Einsatz vermutlich filmreife Szenen aus, doch von Nagelsmann ist es in erster Linie als Aufforderung zu verstehen: Fügt euch in das von mir geschaffene Gebilde ein!
Eine Gefahr bleibt
Es gilt aber auch: Wer nicht mitzieht und seine Rolle nicht annimmt, ist raus. Prominenteste Opfer der Marschroute des Bundes-Regisseurs sind Leon Goretzka und Mats Hummels. Gerade letzterem wurde allgemein nicht zugetraut, eine mögliche Reservistenrolle klaglos anzunehmen.
Dass sich der Dortmunder Routinier nach seiner Nicht-Berücksichtigung die eine oder andere Spitze in den sozialen Netzwerken nicht verkneifen konnte, bestätigte im Grunde diesen Eindruck.
Eine Gefahr besteht im Nagelsmann-Rollenspiel allerdings doch: Der mannschaftsinterne Wettkampf könnte leiden, ja womöglich sogar ganz ausfallen.
Aktuell wirkt ein Großteil der Startelfplätze für das Auftaktspiel gegen Schottland fast wie in Stein gemeißelt – auch weil sich einige Stars mit guten Leistungen gegen Frankreich und die Niederlande im März festgespielt haben.
Aber auch hier kann der Bundestrainer vermutlich auf das gewählte Personal setzen. „Man ist in seiner Rolle ja nie ganz fest“, sagt Müller mit Verweis auf den Konkurrenzkampf im Team.
Mannschaften durchlaufen während eines Turniers immer eine Entwicklung, Filme enden manchmal anders, als man es erwartet – oder der Regisseur es sich vorher gedacht hat.