In Madrid will er der neue Abwehrchef werden, in der deutschen Nationalmannschaft ist er es schon.
„Ich liebe es, unangenehm zu sein“
Bei SPORT1 erklärt Antonio Rüdiger, was Hansi Flick bei der WM in Katar von ihm erwartet, wen er als Titel-Favoriten sieht und warum er die Vergabe des Turniers an den Wüsten-Staat kritisch betrachtet.
Weitere Themen in Teil 2 des großen Exklusiv-Interviews mit dem Real-Star: die Schnelllebigkeit des Geschäfts am Beispiel von Thomas Tuchels Entlassung bei seinem Ex-Klub Chelsea, Psycho-Spielchen mit Gegenspielern und „Faxen“ beim Sprinten sowie seine Pläne für die Zeit nach seiner Karriere. (Alle News und Hintergründe zur deutschen Nationalmannschaft)
SPORT1: Antonio, in Teil 1 unseres Interviews sprachen wir viel über Ihr neues Abenteuer in Madrid, aber kaum über Ihren Weg dorthin. Dieser war nicht selten steinig, wenn man auf ihre Zeit als Tribünengast beim FC Chelsea zurückblickt. Welche Lehren haben Sie aus derart schwierigen Phasen gezogen?
Antonio Rüdiger: Das Fußballgeschäft ist sehr wechselhaft, Türen öffnen und schließen sich schnell. Selbst an sich glauben und Leute haben, die an einen glauben - das ist am Ende entscheidend. Bei Chelsea habe ich es auf die harte Tour lernen müssen. Ich war immer bereit zu spielen, und zum Glück kam mit Thomas Tuchel dann auch ein Trainer, der auf mich gesetzt und mir gezeigt hat, dass ich ein wichtiger Spieler für ihn bin.
DFB-Star: „Bin nicht Profi-Fußballer, um Jedermanns Freund zu sein“
SPORT1: Sie wurden nicht nur bei Chelsea, sondern auch hierzulande oft abgeschrieben. Wie hart war das für Sie?
Rüdiger: Ich wurde schon als Kind von meinen Eltern ‚Warrior‘ genannt. Wenn es eine Wand gibt, laufe ich zehnmal dagegen, aber am Ende komme ich durch. Ich bin ein Kämpfer und habe über die Jahre gelernt, mit Kritik umzugehen. Jeder kann seine Meinung äußern, aber für mich zählt vor allem, was meine Trainer und Mitspieler denken. Der Rest ist zweitrangig.
SPORT1: Sie ecken oft an und polarisieren. Machen Sie das bewusst? (DATEN: Tabellen der Nations League)
Rüdiger: Ich bin nicht Profi-Fußballer geworden, um Jedermanns Freund zu sein. Es ist schön, wenn mich jemand sympathisch findet, aber ich kann es nicht jedem recht machen. Ich liebe es, zu verteidigen und unangenehm zu sein.
SPORT1: Ihre impulsive Art stand Ihnen manchmal aber auch im Weg.
Rüdiger: Ja, vor allem zu Beginn meiner Karriere in Stuttgart, da habe ich die eine oder andere Rote Karte gesammelt.
SPORT1: Wie haben Sie das abgestellt?
Rüdiger: Meine Familie hat mich da rausgeholt. Früher wollten sie mich zu jemandem schicken, um zu reden, aber das ist bei mir schon der falsche Ansatz. Ich rede nicht gerne mit fremden Menschen über meine Gefühle. Ich bin mittlerweile viel reifer geworden. Das liegt am Alter, aber auch an meinen Kindern. Die haben mich verändert. Ich bin nicht mehr allein, es kommt etwas nach mir - dieses Gefühl ist schön und hat bei mir zu einem höheren Verantwortungsbewusstsein geführt.
Rüdiger: „Ich brauche Psychospielchen und Trashtalk“
SPORT1: Ein bisschen vom alten Toni schlummert aber noch in Ihnen.
Rüdiger: Das bin einfach ich. Ich liebe und brauche auch die Psychospielchen und den Trashtalk mit meinen Gegenspielern, das macht mir einfach Spaß.
SPORT1: Warum?
Rüdiger: Ich analysiere meine Gegenspieler gerne und denke mir: Okay, mal sehen, wie der so reagiert, wenn ich ihn jetzt ein bisschen provoziere. Aber es ist nicht so, dass ich mir vor jedem Spiel jemanden rauspicke. Das passiert spontan.
SPORT1: In den Sozialen Medien kursieren einige lustige Videos von Ihnen. Sie fallen auch immer wieder mit kuriosen Sprintbewegungen auf, in denen Sie wie wild mit den Armen rudern.
Rüdiger: Ich mache das, weil ich denke, dass ich so schneller bin. Wenn Leute das amüsant finden, lache ich gerne mit. Viele werden sich an die von Ihnen angesprochene Szene beim Spiel mit Chelsea gegen Newcastle letzte Saison erinnern. Ich bin ehrlich: Da habe ich bewusst ein paar Faxen gemacht, weil es mir bei diesem Spiel einfach zu ruhig im Stadion war. Ich wollte die Leute damit aufwecken.
SPORT1: Sehen Sie sich als Entertainer?
Rüdiger: Auf jeden Fall! Am Ende des Tages ist Fußball doch auch Entertainment. Fans kommen ins Stadion, um unterhalten zu werden. Man wird nicht sehen, wie ich fünf, sechs, sieben oder acht Spieler ausdribbele wie Vinicius. Ich schaffe das auf eine andere Art und Weise. Ich falle auf, weil ich ein Typ bin.
Tuchel-Entlassung? „Mal ist man Held, mal Buhmann“
SPORT1: Sind Sie aktuell in der Form Ihres Lebens?
Rüdiger: Ich würde sagen, dass ich auf meinem Peak angekommen bin. Ich genieße die Phase zurzeit total. Mittlerweile ist es so, dass ich sage: Ich fühle mich als Spieler komplett.
SPORT1: Ihr Ex-Trainer Tuchel hat Sie auf dieses Niveau gebracht. Kürzlich wurde er bei Chelsea entlassen. Was denken Sie darüber? (SERVICE: Die brisanten Hintergründe der Tuchel-Entlassung)
Rüdiger: Erst hat man ihn neue Spieler holen lassen, um ihn dann nach ein paar Partien zu entlassen. Das hat mich in der Schnelligkeit dann doch überrascht. Der Tag seiner Entlassung war ein trauriger für mich. Ich habe danach mit ihm geschrieben und mich bei ihm nochmal für alles bedankt. Er war für alle da, nicht nur für mich. Wenn man sich anschaut, wo wir hergekommen sind und wo er uns hingebracht hat: Er hat das Unmögliche geschafft. Aber Sie wissen ja, wie das läuft im Fußball. Mal ist man der Held, mal der Buhmann.
SPORT1: Erst Held, dann Buhmann war bei vielen Fans auch Weltmeister-Coach Joachim Löw. Er hat auch in schwierigen Phasen in der Nationalmannschaft auf Sie gesetzt. Welche Rolle hat er für Sie gespielt?
Rüdiger: Jeder weiß, wie ich über Jogi denke. Ich habe ihm sehr viel zu verdanken. Als junger Kerl hatte ich es oft nicht leicht. Meine Nominierungen wurden von vielen angezweifelt, aber Jogi hat nie die Fassung verloren. Er hat immer zu mir gehalten. Dann war für mich auch irgendwann klar: Wenn bei einer Pressekonferenz mein Name fällt, darf er wegen mir nicht in Erklärungsnot geraten. Das war er am Ende, auch aufgrund des Champions-League-Sieges mit Chelsea, glücklicherweise nicht mehr so.
Katar: „Natürlich ist der WM-Titel das Ziel, aber...“
SPORT1: Und wie läuft Ihre Zusammenarbeit mit dem neuen Bundestrainer Hansi Flick?
Rüdiger: Zu Hansi habe ich eine sehr gute Verbindung. Was ich am meisten an ihm mag, ist seine Ehrlichkeit und dieses Wir-Gefühl. Nach der EM hat er mir in einem Gespräch klar mitgeteilt, was er von mir erwartet: Dass ich eine Chefrolle einnehmen soll. Das habe ich mir zu Herzen genommen. Ich habe die Fähigkeit, dass ich Leute mitziehen kann. Das hatte ich schon immer. Ich konnte schon als Kind Menschen für mich gewinnen.
SPORT1: Neuling Armel Bella-Kotchap ist wie Sie Innenverteidiger. Der Ex-Bochumer ist neun Jahre jünger als Sie. Was halten Sie von ihm? (NEWS: Faustdicke Flick-Überraschung!)
Rüdiger: Ich kannte ihn noch nicht. Ich haben nur ein Spiel von ihm gegen Chelsea gesehen. Da war ich wirklich überrascht. Er hat sehr gut gespielt. Es freut mich für ihn, dass er als junger Mann nominiert wurde. Er darf jetzt natürlich WM-Hoffnungen haben. Ich werde ihm helfen, wo immer ich kann.
SPORT1: Manuel Neuer hat zuletzt den WM-Titel als Ziel ausgerufen. Ist die deutsche Mannschaft wirklich schon so weit?
Rüdiger: Natürlich ist der WM-Titel das Ziel! Ich sehe andere Nationen aktuell aber vor uns. Trotzdem brauchen wir uns vor niemandem zu verstecken. Aber ich sitze jetzt nicht hier und sage: Wir sind der große WM-Favorit. Die Underdog-Rolle ist vielleicht gar nicht so schlecht.
SPORT1: Welche Nationen sind Ihrer Ansicht nach besser?
Rüdiger: Frankreich und Brasilien sind bestückt mit guten Einzelspielern. Was das angeht, sind uns diese Nationen etwas voraus. Was Deutschland immer ausgezeichnet hat, ist aber der große Zusammenhalt. Wir müssen alle an einem Strang ziehen. Egal, wie schwer es wird. Wir müssen einfach mehr wollen als die anderen.
Wenn wir auf dem Platz sterben, dann sterben wir eben alle zusammen. Diese Mentalität musst du auf den Platz bringen. In erster Linie müssen wir gut verteidigen. Nach dem 5:2-Sieg gegen Italien war ich wütend. Wir haben drei Tore geschossen und auf einmal dachte wohl jeder, er muss ein Tor machen. So ein Spiel müssen wir noch souveräner nach Hause fahren.
„Katar? Geld und Macht spielen eine entscheidende Rolle“
SPORT1: Werden Sie nach solchen Spielen in der Kabine laut?
Rüdiger: Ich ergreife auch mal das Wort, natürlich. In erster Linie übernimmt das aber unser Kapitän. Manu war natürlich angepisst, auch Joshua. Solche Fehler müssen wir intern klar ansprechen. Dann wird sich die Meinung gesagt und gut ist! So muss es sein. Wenn wir uns nur anlächeln, läuft irgendwas falsch.
SPORT1: In weniger als acht Wochen geht das Turnier in Katar los. Sind Sie schon im WM-Fieber?
Rüdiger: Das WM-Fieber ist schon da. Ich will endlich 2018 aus meinem Kopf haben, als wir in Russland so enttäuscht haben. Ich bin richtig heiß auf die WM!
SPORT1: Zur WM in Russland sollen sie mit Playstation und Shisha angereist sein. Was wird diesmal im Gepäck sein? (DATEN: Spielplan und Ergebnisse der Nations League)
Rüdiger: Keine Ahnung, wo die Information mit der Shisha herkam (lacht). Ich bin Minimalist. Ich nehme nur das Wichtigste mit. Und das ist diesmal meine Familie. Wenn ich weiß, dass sie in meiner Nähe ist, geht es mir gut. Sie gibt mir Kraft.
SPORT1: Wie stehen Sie der WM-Vergabe nach Katar gegenüber?
Rüdiger: Die Vergabe der WM nach Katar war eine Entscheidung, die nicht für Fans und uns Spieler getroffen wurde. Sie zeigte, dass Geld und Macht im Weltfußball eine sehr entscheidende Rolle spielen. Die Diskussion über einen möglichen Boykott sehe ich auf der Ebene der Funktionäre und Verbände - aber nicht bei uns Spielern. Selbstverständlich müssen wir Spieler uns aber mit der Situation vor Ort kritisch beschäftigen und das haben wir als Mannschaft auch schon gemacht.
Deshalb will Rüdiger unbedingt nach Paris
SPORT1: Sie haben mehrfach Kritik am Fußballgeschäft geübt. Wie lange wollen Sie noch Teil dessen sein?
Rüdiger: Ob ich mal bis 40 spiele, weiß ich nicht. Wenn Gott sagt, dass es vorbei ist, ist es vorbei, dann gehe ich meinen Dingen nach und kann wieder ich sein. Tendenziell sehe ich mich aber nach einer hoffentlich langen und erfolgreichen Fußballerkarriere nicht mehr im Fußballgeschäft.
SPORT1: Was werden Sie nach Ihrer Zeit als Fußballer machen?
Rüdiger: Ich werde wieder Kind sein und vieles nachholen, was ich versäumt habe. Ich will auf Rummelplätze gehen und Spaß haben. Ich war noch nie im Disneyland, weil sich meine Eltern das früher nicht leisten konnten und ich sie sowas nie fragen konnte. Die werde ich eines Tages dann mit dorthin nehmen - mit meinen Kindern.