Genau dieser Schuss scheint Granit Xhakas Spezialität zu sein. Als die 16. Minute im Pokalfinale zwischen Bayer Leverkusen und dem 1. FC Kaiserslautern lief, rollte der Ball zentral vor den Sechzehner der Pfälzer. Ähnlich wie zuletzt schon in Frankfurt, beim Titelentscheid der Bundesliga gegen Bremen oder zu Jahresbeginn gegen Mainz gesehen. Wieder fackelte Xhaka nicht lange - und wieder zirkelte er den Abschluss aus rund 20 Metern direkt mit dem linken Innenrist in die Maschen. Das nächste Ding der Marke Traumtor.
Ein absoluter Glücksgriff
Was man von seinen Treffern mittlerweile ebenso gut kennt, sind die kuriosen Jubelgesten danach. In Berlin versammelte sich Xhaka mit seinen Teamkollegen am Spielfeldrand, ehe sie sich alle mit der Hand an den rechten Fuß griffen. Die nähere Bedeutung? Völlig unklar - sollte aber auch nicht weiter wichtig sein. Viel relevanter war doch die Tatsache, dass es bereits das entscheidende Tor dieses Endspiels war, bei dem David und Goliath aufeinander trafen. Der Schuss, der Bayers erst zweiten Pokaltriumph nach 1993 perfekt machte.
Im Olympiastadion hatte der haushohe Favorit, der erst vor einer Woche die Meisterschale entgegengenommen hatte, mit dem fast abgestiegenen Zweitligisten nämlich unerwartet viele Probleme. Lautern kämpfte bravourös, dazu mussten die Leverkusener nach einer gelb-roten Karte gegen Odilon Kossounou mehr als eine Halbzeit zu zehnt spielen. Langjährige und leidgeprüfte Fans der Werkself werden sich an alte Zeiten erinnert haben, in denen ihre Mannschaft bei exakt dieser Art von Spielen immer wieder stolperte.
Xhaka hat sein Bad-Boy-Image abgelegt
Doch dieses Jahr ist bekanntermaßen alles anders - nicht zuletzt dank Oberboss Xhaka. Der 31-Jährige, häufig als Dirigent des rheinländischen Spiels bezeichnet, schoss ja nicht nur das goldene Tor des Abends. Er fand auch seinen so schmerzlich vermissten Taktstock wieder, den der Schweizer gegen Atalanta (0:3) noch verloren zu haben schien. Sichtlich enttäuscht und sauer über sich selbst und das bittere Resultat hatte er am Mittwoch direkt das große Ganze infrage gestellt.
„Jetzt müssen wir schauen, was diese Mannschaft wirklich für einen Charakter hat. Wenn man über 51 Spieltage ungeschlagen ist, ist es einfach, zueinander zu stehen, zu lachen.“ Klar, dieser Satz fiel aus den Emotionen heraus und war total überzogen, weil Bayer bis dahin den Status der „Unbesiegbaren“ innehatte - was ohne diesen „Charakter“ niemals möglich gewesen wäre. Es zeigte jedoch, wie Xhaka tickt. Dass er jemand ist, der stets nach dem Maximalen strebt und den Finger sofort in die Wunde legt, wenn es mal nicht stimmt.
Die Charakter-Frage kann der gebürtige Baseler allerdings wieder abhaken. Gegen Lautern schüttelte Xhaka die herbe Enttäuschung meisterlich ab, war abermals das Metronom im hart umkämpften Mittelfeld, das die Passmaschine stets am Laufen hielt. 102 Ballkontakte sammelte er während der Partie, 91 Prozent seiner Pässe landeten beim eigenen Mitspieler. Wusste ein Spieler der Werkself mal nicht, wohin mit dem Ball, lautet eine richtige Lösung immer Xhaka. Die ständig verfügbare Anspielstation, der Ruhepol im eigenen Ballbesitz.
Von Anfang bis zum Schlusspfiff eine Leistung, die einmal mehr bewies, welchen bemerkenswerten Reifeprozess Bayers Leader im fortgeschrittenen Fußballer-Alter noch hingelegt hat. Aus einem einst unbeherrschten Jungstar, der sich sein zweifelhaftes Bad-Boy-Image zu Gladbacher Zeiten erarbeitet hatte, ist eine abgeklärte und unverzichtbare Führungskraft geworden. Antreiber, Abräumer, Mentalität, Robustheit, Technik - und neuerdings auch seine Schussstärke: Xhakas Gesamtpaket ist schlicht und einfach beeindruckend.
Xhakas Reifeprozess
Dass sich die Leverkusener nun erstmals überhaupt als Double-Sieger bezeichnen dürfen, hat eine Menge mit ihrem omnipräsenten Mittelfeldstrategen zu tun, daran zweifelt niemand. Xhaka hat vor allem für Trainer Xabi Alonso eine essenziell hohe Bedeutung. Er ist sein verlängerter Arm, sein Sprachrohr auf dem Platz, quasi ein Bruder im Geiste. War der spanische Titelsammler früher als aktiver Spieler selbst die ordnende Instanz, übernimmt nun Xhaka die Aufgaben des Strippenziehers. Keiner hat einen so großen Impact.
Natürlich sind unterm Bayer-Kreuz gerade extrem viele zu loben. Allein die Liste der namhaften Neuzugänge, welche die Rheinländer im vergangenen Sommer an Land gezogen haben, ist erwiesen lang. Sie reicht von Alejandro Grimaldo über Jonas Hofmann bis hin zu Victor Boniface oder Josip Stanisic. Doch Xhaka sticht aus dieser unvergleichlichen Ansammlung an Top-Transfers nochmal ein gutes Stück heraus - und verkörpert die neue Leverkusener Mentalität, die „Vizekusen“ schlagartig vergessen ließ, wie kein Zweiter.
„Das bleibt in unserem Kopf“
„Er ist ein Kämpfer, ein Krieger. Er hat ein großes Herz, er hat große Führungsqualitäten. Er spielt sehr intensiv, sehr diszipliniert, sehr konzentriert, koordiniert immer die Verbindung zwischen unseren Spielern. So einen Mittelfeldspieler brauchst du in wichtigen Momenten - und Granit ist da“, sagte Alonso einst über Xhaka. Keine Frage, die 15 Millionen Euro, die Bayer vor der Saison an den FC Arsenal überwiesen hat, haben sich mehr als rentiert.
Sein Traumtor in Berlin, das Xhakas herausragende Saison krönte, passte da perfekt ins Bild - das verdeutlichte hinterher auch Alonso. „Granit spielt eine große Rolle in diesem Erfolg. Er war sehr wichtig für uns in dieser Saison“, sagte der Baske: „Das bleibt in unserem Kopf: Pokalsieg, 1:0, Tor durch Granit Xhaka.“ In Leverkusens Vereinsgeschichte hat der Schweizer fortan also einen wichtigen Platz.