Am Ende eines Abends, der als „Remontada“ angekündigt war, also als eine Aufholjagd, ein großes Comeback im Bernabeu, ging nichts mehr. Antonio Rüdiger blickte resigniert auf den Rasen, Real-Trainer Carlo Ancelotti gratulierte seinem Gegenüber Mikel Arteta fair, die Fans auf den Tribünen hatten mit dem Traum von der Titelverteidigung in der Champions League längst abgeschlossen. Denn die Madrilenen präsentierten sich so, wie man sie seit Jahren nicht gesehen hatte: harmlos, ideenlos und chancenlos.
Champions League: Der tiefe Fall der Übermächtigen
Ein königliches Desaster
Nach der 0:3-Niederlage im Hinspiel beim FC Arsenal verlor das Starensemble um Kylian Mbappé und Vinicius Junior auch im Viertelfinal-Rückspiel gegen die Londoner mit 1:2 - in Summe stand ein 1:5 auf der Ergebnistafel. Fast unwürdig für einen solchen Verein, eine schallende Ohrfeige. „Es ist ein schwieriger Moment“, gestand Lucas Vázquez, der mit Real erstmals seit 2020 das Halbfinale der Königsklasse verpasste.
Doch nicht nur das Aus im Viertelfinale der Champions League ist eine herbe Enttäuschung für das Ancelotti-Team, in der Meisterschaft liegt der große Rivale FC Barcelona dazu vier Punkte voraus. Am 26. April steht Madrid gegen Hansi Flicks Katalanen immerhin noch im Finale um die Copa del Rey. Geht jedoch auch das in die Hose, droht eine titellose Saison. Es wäre ein Desaster - entsprechend gnadenlos ging die Presse nach der verpassten „Remontada“ mit dem einst gefräßigen Monster Real ins Gericht.
Presse fällt über Mbappé her
„Die Magie des Bernabéu, das Gewicht des Trikots, die Macht des Wappens – Real Madrid hatte sich an die immateriellen Dinge geklammert, um ein Comeback mit einer komplizierten fußballerischen Rechtfertigung zu erreichen. Das Real Madrid der elf Niederlagen und 61 Gegentore vertraute sich der Mystik an, um seine mangelnde Konstanz zu überspielen“, schrieb die Sport und schlug damit in die gleiche Kerbe wie andere Zeitungen. Der Tenor: So wie in diesem Jahr kennen wir unser glorreiches Madrid nicht.
Eine Mitschuld an der sportlichen Katastrophe sieht die Sport ausgerechnet bei Mbappé. „Die Wahrheit besagt, dass dieses Madrid, amtierender Champions-League-Sieger mit Mbappé, als Mannschaft nicht funktioniert. Das Auftauchen von Kylian hat das im Vorjahr von Ancelotti geschaffene Ökosystem aus dem Gleichgewicht gebracht“, lautete deren hartes Urteil, das wohl den Nerv vieler Fans der Madrilenen traf - auch wenn klar ist, dass Reals Absturz bei weitem nicht nur mit Mbappé zu tun hat.
Denn nicht nur Mbappé, auch andere Topstars laufen ihrer gewohnten Form derzeit weit hinterher: Gleiches gilt für Vinícius Júnior oder Rodrygo. In der Verteidigung erwischte unter anderem David Alaba am Mittwoch einen rabenschwarzen Tag, im Mittelfeld scheint seit dem Karriereende von Toni Kroos die nötige Struktur zu fehlen. Viele Negativpunkte, die zu einer Menge Frust führen. Auch bei Torhüter Thibaut Courtois, der mit starken Paraden sogar eine noch höhere Niederlage gegen Arsenal verhinderte.
„Wir müssen anfangen, als Team zu spielen“
„Anstatt viele Flanken zu schlagen, müssen wir vielleicht etwas mehr Teamfußball spielen“, legte Courtois nach dem bitteren Ausscheiden gegen Arsenal den Finger in die Wunde und fügte hinzu: „Wir müssen anfangen, als Team zu spielen, nicht als Einzelne. Wir müssen anfangen, ehrlich zu uns selbst zu sein. Wir sind ein Team, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass wir zu individuell spielen.“ Gleichwohl beteuerte der Belgier, dass er jetzt nicht über Einzelpersonen sprechen wolle.
Und doch es fällt auf, wie viele Nebengeräusche es gerade in Madrid gibt - vor allem um Mbappé und Vinícius. In den vergangenen Wochen war immer wieder zu hören, dass sich einige Real-Stars zunehmend über das Verhalten des Brasilianers ärgern. Ein Grund: Er leistet kaum Defensivarbeit. Ähnliche Vorwürfe hatte es zuvor auch schon gegen Mbappé gegeben. Dass das scheinbar übermächtige Konstrukt aus Madrid nun wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt, sei so nicht unbedingt überraschend, meinen Experten.
Dabei rätseln die Spanier über generell mangelndes Engagement beziehungsweise eine gewisse Müdigkeit der Truppe - und verweisen auf die Laufleistung in den Partien gegen Arsenal. Im Hinspiel liefen die Königlichen gut 14 Kilometer weniger als ihr Gegner, im Rückspiel waren es immer noch 9,5 Kilometer - ein eklatanter Unterschied. Insgesamt spulte Real in beiden Begegnungen also kaum zu glaubende 21,2 Kilometer weniger als die Engländer ab. Übertrieben umgerechnet könnte man sagen: Es war, als hätte Madrid fast zwei Spieler weniger auf dem Platz gehabt.
Steht Ancelotti vor der Entlassung?
Wer die Aufräumarbeiten bei den Königlichen nun ganz genau beobachten wird, sind die Verantwortlichen von Bayer Leverkusen. Denn wie immer, wenn ein großer Verein vom Himmel in die Hölle stürzt, wackelt dort als Erstes der Stuhl des Trainers. Wie seine Zukunft aussehe, wisse der betroffene Ancelotti nicht „und ich will es auch nicht“, sagte er nach dem Rückspiel. „Vielleicht entscheidet sich der Verein für einen Trainerwechsel, vielleicht dieses Jahr – oder nächstes Jahr, wenn mein Vertrag ausläuft, das spielt keine Rolle.“
Ancelottis Vertrag endet im Sommer 2026, Xabi Alonso wird schon länger als möglicher Nachfolger gehandelt. Doch ob er Ancelotti erst im kommenden Jahr, in wenigen Wochen oder gar nicht beerbt, ist in diesen Tagen offener denn je. „Wann immer ich Real verlasse, kann ich mich nur beim Klub bedanken – ob mein Vertrag endet oder nicht, ist für mich nicht wichtig“, ließ Ancelotti alle Optionen offen und ergänzte: „Es kann morgen sein, in zehn Tagen, in einem Monat oder in einem Jahr.“
Bayers Geschäftsführer Fernando Carro hatte zuletzt angedeutet, dass ein Ausscheiden Reals aus der Königsklasse bedeuten könnte, Ancelotti schon in diesem Sommer durch Alonso ersetzen zu wollen. Ob es dazu kommt, wird die nahe Zukunft zeigen. Schließlich ist der Trainerposten die wichtigste Personalie, die geklärt werden muss. Erst dann können andere Baustellen angegangen werden - damit sich so grausame Abende wie gegen Arsenal nicht wiederholen.