Vielleicht war es allein die Umgebung, die Leverkusens Robert Andrich am Donnerstagabend zur Höchstleistung anspornte: Ein Gastspiel bei Feyenoord aus dem gleichnamigen Stadtteil im Süden Rotterdams, einem Verein, der ohne Schnickschnack und Beinamen wie „FC“ oder „SV“ auskommt. Rau, aber leidenschaftlich, fleißig und hart arbeitend, so sieht man die Menschen in der Hafenmetropole. So sehen sie sich selbst.
Ein absolutes Statement
Alles Eigenschaften, die genau so auch auf Andrich zutreffen. Dass er den Fußball nicht nur als schöngeistigen Sport ansieht, ist hinlänglich bekannt. Ein bisschen Schmutz darf sein, ein bisschen übertriebene Härte hier und da ebenfalls. Mit dem Bad-Boy-Image, das ihm immer wieder angehängt wird, hat er kein Problem. Im Gegenteil - mit seinem Verhalten auf dem Platz trägt er gerne dazu bei. Kein Wunder also, dass sich der Nationalspieler im berüchtigten und lauten „De Kuip“ sofort zu Hause fühlte.
Andrich stellt „De Kuip“ ruhig
Nach Matchwinner Florian Wirtz war Andrich der beste Leverkusener in Rotterdam. Ein gutes Beispiel: Sein energischer Einsatz nach fünf Minuten, der die Werkself auf die Siegerstraße brachte. Tief in der Hälfte von Feyenoord luchste er seinem Gegenspieler Ramiz Zerrouki nach erfolgreichem Pressing den Ball ab und schickte Wirtz auf die Reise. Dieser hatte zentral vor dem Strafraum viel Platz und erledigte den Rest - sein platzierter Abschluss landete im rechten unteren Toreck.
Nur eine von vielen guten Aktionen, an denen Andrich beteiligt war. Auch im weiteren Verlauf drückte der deutsche Nationalspieler dem Spiel immer wieder seinen Stempel auf - vor allem in der ersten Halbzeit, als Bayer längst nicht so dominant spielte, wie es der 4:0-Pausenstand vermuten ließ. Doch auf eines konnte sich Trainer Xabi Alonso an diesem Abend verlassen: Wenn es brenzlig wurde, war der 29-Jährige immer zur Stelle. Vier abgefangene Bälle, vier erfolgreiche Grätschen, zwei geklärte Flanken und ein geblockter Abschuss des Gegners sprechen für sich.
Dass die meisten der 50.000 Zuschauer, die lange vor dem Anpfiff für eine grandiose Stimmung gesorgt hatten, das biedere, aber immerhin kämpfende Feyenoord nach 45 Minuten mit einem Pfeifkonzert in die Kabine verabschiedeten, lag nicht zuletzt an Andrichs Leistung. Es schien, als wollte er Alonso noch einmal beweisen, was in ihm steckt. Denn der Konkurrenzkampf im defensiven Mittelfeld wird sich in den kommenden Wochen weiter verschärfen. Neben Aleix Garcia ist nun auch Exequiel Palacios wieder fit - und eine Situation wie vor einem Jahr soll sich für Andrich nicht wiederholen.
Palacios lief Andrich schon einmal den Rang ab
Ein Blick in die jüngere Vergangenheit zeigt: Andrich bekleidete in der Hinrunde 2023/24, als die Leverkusener Erfolgsmannschaft so richtig in Fahrt kam, allenfalls die ungeliebte Rolle des Ergänzungsspielers. An der Seite von Granit Xhaka war Palacios im defensiven Mittelfeld gesetzt, die beiden harmonierten wochenlang prächtig. Andrich hingegen blieb in der Bundesliga Reservist, durfte primär in der Europa League gegen vermeintlich schwächere Gegner wie Molde, Qarabag oder Häcken ran.
Seinen Unmut darüber äußerte er auch öffentlich. „Es ist nie schön, auf der Bank zu sitzen. Das ist auf jeden Fall keine einfache Situation für mich“, sagte Andrich Mitte Dezember 2023 und gab später zu: „Es ist schon häufiger der Fall, dass ich schon sehr sauer bin. Am Ende bringt das leider nichts. Weil: Ich kann es in mich hineinfressen, ich kann es nach außen hin schlecht zeigen. Wenn ich dann schlechte Leistungen bringe, ist es sogar noch schlechter, als wenn ich gute Leistungen abliefere.“
Erst nach dem Jahreswechsel änderte sich Andrichs Situation, als sein direkter Konkurrent Palacios verletzungsbedingt ausfiel. Eine Chance, die er dank seiner physischen und mentalen Stärke zu nutzen wusste. Und das äußerst eindrucksvoll - so spielte sich der Mittelfeldmann gar in den Fokus von Bundestrainer Julian Nagelsmann. Bei der Heim-EM war er schließlich die Antwort auf die Suche nach der „Holding Six“ und agierte als Bodyguard von Toni Kroos.
Knüppelharter Konkurrenzkampf um Andrich
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es in der vergangenen Saison Andrich war, der verletzt in die Saison ging. Diesmal traf es eben Palacios, der sich nach der erfolgreichen Teilnahme an der Copa América und dem Titelgewinn mit Argentinien einer Operation am Innenmeniskus des rechten Knies unterzog und bis dato pausieren musste. Heißt: Umgekehrtes Spiel, nun hatte der gebürtige Potsdamer etwas Zeit, sich einen kleinen Vorteil gegenüber der teaminternen Konkurrenz zu erarbeiten.
In Rotterdam gab Palacios nach überstandener Verletzungspause dann sein Comeback auf dem Rasen. „Pala braucht noch ein bisschen Zeit, um über 90 Minuten gehen zu können. Aber er ist sehr wichtig für uns, das ist immer wieder zu sehen“, erklärte Alonso noch am Freitag mit Hinblick auf die Bundesliga-Partie am Sonntag gegen den VfL Wolfsburg (15.30 Uhr im SPORT1-Liveticker). Dennoch ist klar: Das Ringen um den Platz neben Taktgeber Xhaka ist endgültig eröffnet. Und erschwerend kommt in dieser Saison hinzu, dass es mit Neuzugang Garcia einen dritten Anwärter gibt, der sich mit der Zuschauerrolle auf Dauer keinesfalls begnügen wird.
Für Alonso ein Luxusproblem. Xhaka, Andrich, Palacios und Garcia - nur wenige Trainer auf der Welt, wenn überhaupt, haben im defensiven Mittelfeld die Qual der Wahl auf so hohem Niveau. Xhaka ist in den wichtigen Partien gesetzt, keine Frage. Wer neben dem Schweizer aufläuft, ist aber offener denn je. Doch Andrich dürfte spätestens durch seinen bärenstarken Champions-League-Auftritt in der Pole Position sein.