Ob Marco Reus aus dem fernen Amerika wohl zusehen wird, wenn der VfB Stuttgart heute auf Borussia Mönchengladbach trifft (ab 15.30 Uhr im LIVETICKER)? Allzu wahrscheinlich ist es nicht, denn weit bedeutender für seine Karriere war ja die Zeit bei der anderen Borussia, der aus Dortmund, und die liegt auch nicht so weit zurück.
Reus‘ peinlichste Pleite
Es gibt aber einen weiteren Grund, warum er nicht gern nach Stuttgart schauen dürfte: die Erinnerung an seine peinlichste Niederlage in 391 Bundesligaspielen.

Am 18. September 2010 war Reus noch ein junger Kerl von 21 Jahren und hatte erst 36 Bundesligaeinsätze auf dem Buckel, als er mit den „Fohlen“ beim VfB unter die Räder geriet. Es wurde eine historische Partie, nicht nur für ihn oder den damaligen Gladbacher Manager Max Eberl.
Frontzeck warnte vor Stuttgart
Der Reihe nach: im Mai 2007 trennten sich die Wege der Traditionsklubs, nie waren sie weiter auseinander.
Während der VfB seine vierte und bis dato letzte Meisterschaft einfuhr, stieg die Borussia zum zweiten und bis dato letzten Mal ab. 2008 waren sie schon wieder Klassenkameraden, aber nur der VfB spielte weiter international. So auch in der Saison 2010/11, in die die Schwaben denkbar schlecht starteten – mit drei Niederlagen. Logischerweise war es der schlechteste Start der Vereinsgeschichte und wurde mit dem 18. Platz bestraft.
So empfingen die Stuttgarter die Gladbacher an jenem September-Samstag als Schlusslicht.
Allerdings hatten sie nach einem 3:0 im Uefa-Cup gegen Young Boys Bern unter der Woche etwas Selbstvertrauen getankt und Borussen-Coach Michael Frontzeck, 1992 Meisterspieler beim VfB, warnte: „Wir wissen trotz der Tabelle, dass Stuttgart ein Spitzenteam ist.“ Was zu beweisen war.
Manager Fredi Bobic war schon mit „einem knappen Sieg“ zufrieden, schließlich hatte die unberechenbare Borussia mit einem 6:3 in Leverkusen am zweiten Spieltag für Furore gesorgt, anschließend aber zuhause gegen Frankfurt 0:4 verloren. Wo sie stand, wusste eigentlich niemand so recht.
Auch daraus bezog die Partie ihren Reiz, 39.500 Menschen wollten sie sich im Stadion geben. Die meisten bereuten es nicht, denn sie hielten ja zum VfB.
Gladbach mit frühem Doppelwechsel
Der ging schon nach 94 Sekunden durch den überragenden Russen Pavel Pogrebnyak in Führung, die Verteidiger Georg Niedermeier per Kopf ausbaute (21.). Bis zur Pause, in die es mit einem 2:0 ging, war es noch ein normales, wenn auch da schon einseitiges Spiel.
Der erboste Frontzeck hatte seinen launischen Spielmacher Juan Arango bereits nach 36 Minuten ausgewechselt und nahm in der Halbzeit einen weiteren Wechsel in der Innenverteidigung vor: Bamba Anderson löste Roul Brouwers ab.
Kollege Christian Gross auf der VfB-Bank hatte keinerlei Veranlassung zum Wechseln, zu gut lief der Ball über die Außen Christian Träsch und Arthur Boka, im Mittelfeld überzeugte auch der italienische Weltmeister Mauro Camonaresi, dessen ganze Familie auf der Tribüne saß.
Kein Problem, es war noch nicht die Zeit der ausverkauften Stadien.
VfB-Fans kommen aus dem Staunen nicht heraus
In der Gladbacher Kabine war es etwas lauter geworden, Frontzeck wollte nicht noch einen Fehlstart in eine Halbzeit erleben müssen.
Viel länger dauerte es aber nicht, bis es wieder hinter dem Belgier Logan Bailly (kicker-Note 6) einschlug. Pogrebnyaks Doppelpack (54., 60.) entschied das Spiel, der Rest war Schaulaufen. Den Stuttgartern gelang alles, den Borussen nichts mehr. Sie kamen nur zu einer Torchance, der VfB zu 13, mehr als jede zweite führte zu Toren.
Zdravko Kuzmanovic verwandelte einen Freistoß indirekt (64.), Mathieu Delpierre köpfte nach einer Ecke ein (73.) und Joker Ciprian Marica traf aus dem Spiel heraus zum 7:0-Endstand (80.). Die VfB-Fans sangen entzückt: „Oh wie ist das schön, so was hat man lange nicht gesehen“.
Für viele von ihnen war es in der Tat ein Novum. Der Vereinsrekord wurde eingestellt, es war der fünfte 7:0-Sieg in der Bundesliga, aber der letzte lag fast 20 Jahre zurück.
„Ich war überzeugt, dass wir gegen Gladbach gewinnen – wenn auch nicht so hoch“, sagte Abwehrchef Delpierre. Wie auch? Nie zuvor hatte ein Verein die Borussia zuhause 7:0 geschlagen, nur am Bökelberg gab es mal ein 0:7 gegen Werder Bremen – anno 1966.
Frontzeck entschuldigt sich bei den Fans
Nicht genug der Rekorde: Nie hatte eine Mannschaft nach vier Spieltagen mehr Gegentore als Borussia und in der Bundesligageschichte hat es bis heute keinen höheren Sieg eines Tabellenletzten gegeben.
Und Marco Reus, dem nichts gelang (Kicker-Note 5,5) außer einem Eintrag ins Verwarnungsregister, war dabei. Hinterher war die Betroffenheit groß bei den Verlierern. Reus äußerte sich nicht, entsprechend seiner Rolle im Team hielt er sich medial zurück. Andere taten es nicht.
Frontzeck entschuldigte sich bei den Fans für die Leistung: „Das war ein peinlicher Auftritt. Das war wirklich gar nichts. Wir haben uns abschlachten lassen. Der eine oder andere Spieler hat bei dem 6:3 in Leverkusen wohl etwas falsch verstanden.“
„Das ist Kindergarten“
Kam etwa Hochmut vor dem Fall? Auch Max Eberl war auf dieser Fährte: „Im Nachhinein betrachtet war das 6:3 in Leverkusen wohl Gift für uns. Wir lassen seither Einsatz, Kampf und Laufbereitschaft vermissen.“
Immerhin fehlte es im Spielerlager nicht an Einsichten. „Gegen den VfB stand keine Mannschaft auf dem Platz“, sagte Torben Marx und Kollege Tobias Levels ergänzte: „Das war heute null gegen elf. Wir haben allein fünf Gegentore aus Standards bekommen. Das ist Kindergarten.“
Eberl prophezeite: „Die Spieler werden die nächsten Tage richtig den Kopf gewaschen bekommen, da muss sich jeder an die eigene Nase fassen.“ Frontzeck fing damit am Sonntag an, hielt eine mehr als deutliche Ansprache und verdonnerte Torwart Bailey zu einem Straftraining.
Gladbachs Wiedergutmachung geht schief
Im Stadionheft zum nächsten Heimspiel schon drei Tage später gegen St. Pauli versprachen die Spieler in einer Erklärung: „Es ist unsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass wir dieses Ergebnis abhaken können. Und wir wissen, dass es mit Worten nicht getan ist.“
Die Taten aber folgten nicht. Gegen den Aufsteiger gab es die nächste Niederlage und die Talfahrt ging weiter. Reus aber setzte ein Zeichen und verlängerte wenig später seinen Vertrag bis 2015, der auch für die 2. Liga gelten sollte. Er fühlte sich wohl in der Mannschaft „mit lauter guten Charakteren“.
Aber nicht mit allzu guten Kickern. Erst in der Relegation rettete sich Borussia, dann schon unter Trainer Lucien Favre. Nach seiner Super-Saison 2011/2012, in der er Nationalspieler wurde, wechselte Reus dann nach Dortmund.
Wo er auch manch bittere Enttäuschung erlebte – zu gerne wäre er dort Meister geworden –, aber nie mehr eine so hohe Niederlage kassierte.