Ist er wirklich schon zehn Jahre tot?
Der unterschätzte Jahrhundert-Coach
Zwei Wochen nach seinem 80. Geburtstag starb der große Fußballtrainer Udo Lattek, den Jüngeren auch bekannt als legendärer Ur-Experte im Doppelpass auf SPORT1. Dort saß er von der Auftaktsendung am 3. September 1995 im damaligen DSF bis zu seinem Abschied am 22. Mai 2011 genau 464-mal und erklärte Studiogästen und TV-Zuschauern die Fußballwelt.
Heute wäre Lattek 90 Jahre alt geworden und man hätte sicher gern gewusst, was er von all den jungen Trainern hält, die derzeit im deutschen Fußball wirken. Ob er sich wohl in einem Xabi Alonso, Vincent Kompany oder Julian Nagelsmann wieder erkennen würde? Man weiß es nicht. Nur, dass Udo Lattek einmalig war. In seinen bis heute einzigartigen Errungenschaften als Trainer - und als Typ.
Udo Lattek - ein Mann mit Kultstatus
Lattek trug sein Herz auf der Zunge, weshalb es zu seiner Karriere nach der Karriere kam. Noch mit 76 Jahren mischte er im Doppelpass die Fußballwelt ein bisschen auf. Oft unterbrachen „Udo!“-Rufe aus dem Podium die Debatte, der Mann war Kult.
Wer war Udo Lattek? Geboren am 16. Januar 1935 im ostpreußischen Bosemb als Kind von Bauern, hatte er es weit gebracht im Leben. Von den Schrecken des Krieges aus der Heimat vertrieben, siedelten sich die Latteks im Rheinland an. Von dort zog Udo aus, die Fußball-Welt zu erobern, wenn er nebenbei auch die Lehrerlaufbahn einschlug - für Sport, obwohl er auch Mathematik und Physik studiert hatte. Als Spieler war er unter anderem für Bayer Leverkusen und den VfL Osnabrück aktiv, für den er in der damals erstklassigen Oberliga Nord in 23 Spielen zehn Tore erzielte. Titel gewann erst der Trainer Lattek.
Mit acht Meisterschaften ist er bis heute der erfolgreichste Trainer des deutschen Fußballs. Zwei Hattricks schaffte er mit den Bayern (1972 – 74 und 1985 – 87), zwei Titel mit Borussia Mönchengladbach (1976, 1977). Als einziger Trainer der Welt gewann er alle drei Europapokale seiner Zeit – den der Landesmeister (1974 mit Bayern), den mittlerweile abgeschafften Pokal der Pokalsieger (1982 mit FC Barcelona) und den UEFA-Pokal (1979 mit Borussia Mönchengladbach), der Vorläufer der Europa League. Dreimal gewann er mit Bayern den DFB-Pokal (1971, 1984, 1986). „Wer 14 Titel holt, kann nicht nur Glück haben. Das Glück muss man erzwingen.“ Sagte Lattek über Lattek, dem nur eines fehlte: „Sicher wäre ich gern Bundestrainer geworden“, vertraute er an seinem 70. Geburtstag der Welt am Sonntag an.
Es war ein offenes Geheimnis - aber Lattek hatte das Gefühl, von den „Beamten“ beim DFB verkannt worden zu sein.
Erfolgreichste Trainerkarriere in der Bundesligageschichte
Groß geworden ist er mit den Bayern und die mit ihm. „Mit ihm begann eigentlich die große Zeit der Bayern“, sagte Uli Hoeneß, der sein Spieler und später als Manager sein Vorgesetzter, immer aber auch sein Freund war. Wie begann es? Franz Beckenbauer hatte dem Vorstand, der auf der Suche nach einem Nachfolger für Branko Zebec war, der zum Saisonende 1969/70 aufhören wollte, den Tipp gegeben. Sie kannten sich ja von der Nationalmannschaft, deren Co-Trainer Lattek von 1965 bis 1969 gewesen war. Beim Wembley-Finale saß er neben Bundestrainer Helmut Schön auf der Bank. Man einigte sich schnell: Vertragsbeginn 1. Mai 1970.
Weil Zebec aber schon im März flog, rief Manager Robert Schwan nachts um 4.30 Uhr bei Lattek in Köln-Lövenich an - man brauche ihn sofort. Nachmittags stand er schon auf dem Trainingsplatz. Er sagte: „Ich habe an einem Freitag geheiratet und führe seit acht Jahren eine glückliche Ehe. Ich habe am Freitag, den 13., den FC Bayern übernommen und bin sicher, dass diese Ehe auch gut gehen wird.“ So startete die erfolgreichste Karriere eines Trainers in der Bundesligageschichte. Sein erstes von 522 Bundesligaspielen (282 Siege): ein 6:0 gegen Alemannia Aachen. Es war ein gutes Omen für das, was folgen sollte.
Bis heute ist er mit 299 Spielen der Rekordtrainer der Bayern in der Bundesliga, in der es überhaupt nur vier Trainer mit mehr Spielen gab.
Was machte Udo Lattek aus?
Es war zunächst mehr der Umgang als die Kompetenz, die den erst 35-jährigen Lattek zum Favoriten des Kaisers machte. Eigentlich brauchte die Weltklasse-Mannschaft um Maier, Beckenbauer und Müller sowieso keinen Trainer, hieß es allgemein. „Jetzt haben’s beim FC Bayern, wo der Mozart und der Beethoven in einer Band stehen, endlich auch einen passenden Bediener, der nur die Noten umzublättern braucht“, lästerte Trainerkollege Max Merkel, eigentlich könne man dieses Team ja „vom Telefon aus trainieren“.
Maier: „Er war wie ein zwölfter Spieler“
Beckenbauer schrieb in seinen Memoiren: „In der Tat empfanden wir den neuen Trainer Lattek mitunter wie jemanden, der zum technischen Personal gehörte. Er drängte sich nicht auf.“ Und Sepp Maier sagte: „Er war wie ein zwölfter Spieler, ich habe ihn nie als einen Trainer empfunden, eher als einen Kumpel.“
Mit ihm konnte man auch mal lachen und einen draufmachen wie in jener Sommernacht in der Saisonvorbereitung, als Lattek seine Spieler weit nach Zapfenstreich in einem Lokal erwischte. Sie gingen in Deckung, krabbelten unter Tische oder hinter die Theke, doch Udo war gnädig, winkte sie heran und trank mit ihnen ein letztes Bier. Oder zwei ...
Er war immer mehr Pädagoge, Psychologe, Mentaltrainer als Konzepttrainer oder Taktikguru. Aber der so oft belächelte und unterschätzte Kumpeltyp wusste eben doch, an welchen Schrauben er zu drehen hatte, um das Beste aus einer Mannschaft herauszuholen.
Lattek selbst gestand an seinem 70. Geburtstag: „So trainieren wie ich es getan habe, das kann jeder. Eine Mannschaft körperlich fit zu machen, das haben wir alle auf der Sporthochschule gelernt. Die Kunst aber ist es zu sehen, welcher Spieler mal ein Lob braucht oder eher mal einen Tritt in den Hintern.“ Seine Art kam an bei den jungen, noch erfolgshungrigen Bayern. Er war das Kontrastprogramm zum mürrischen Vorgänger Zebec.
In die Bundesliga kam er nicht wegen früherer Meriten, sondern dank der Trainerlizenz. Erworben an der Kölner Sportakademie von Hennes Weisweiler, mit dem ihn zeitlebens eine Hassliebe verband. Bezeichnend dessen Kommentar, als Lattek ihm 1975 bei der Borussia folgte: „Mit dieser Mannschaft wird sogar der Lattek Meister.“
Biergarten anstelle von Trainingsplatz
Stimmt, weil er auch dort den richtigen Ton fand. Seine Worte saßen, keiner konnte damals eine Mannschaft besser motivieren - und sei es durch einen gemeinsamen Nachmittag im Biergarten anstelle eines Trainings wie 1987 am Ende seiner zweiten Bayern-Zeit.
Irgendwas musste ja dran sein an diesem Mann, der nur für populäre Klubs arbeitete. Nach Bayern, wo sie ihn nach einer verkorksten Hinrunde 1974/75 feuerten, kam 1975 Borussia Mönchengladbach, obwohl er schon bei Rot-Weiß Essen unterschrieben hatte. „Was würden Sie machen, wenn Sie die Wahl hätten zwischen einem Fahrrad und einem Mercedes?“, fragte er die Reporter entwaffnend und löste den Vertrag auf. Borusse blieb er bis 1979 und ging als UEFA-Cup-Sieger.
Es folgten zwei Jahre in Dortmund, dann zog es ihn 1981 in Folge des tragischen Todes seines Sohnes Dirk (Leukämie) in eine andere Umgebung. Lattek: „Wenn der Tod meines Sohnes nicht gewesen wäre, hätte ich die meiste Zeit auf der Sonnenseite des Lebens gestanden.“
Beruflich blieb er es. Beim FC Barcelona gewann er auf Anhieb den Europapokal, dann kam Diego Maradona. Mit der Diva aus Argentinien gab es Ärger, einmal ließ Lattek den Bus ohne ihn abfahren. Deswegen sei er im März 1983 gefeuert worden, erzählte er gern.
Das ebnete ihm den Weg zurück zu den Bayern, wo sein Schützling Uli Hoeneß nun Manager war, und dem zweiten Titel-Hattrick. Nach dem verlorenen Landesmeister-Finale 1987 gegen den FC Porto wollte er seine Karriere beenden und verließ München. Auch weil er sich zu gut mit einigen Spielern verstanden habe, die aussortiert werden sollten.
Da ging er lieber selbst, die letzte Ehrenrunde absolvierte er auf einem Traktor im Olympiastadion. Vorher hatte er sich bis aufs Unterhemd ausgezogen und die Klamotten in die Südkurve geworfen, die ihn frenetisch feierte („Udo Lattek, Du bist der beste Mann!“).
Der Freund der Spieler war immer auch ein Mann des Volkes.
Trotz Schalke-Vergangenheit: Lattek als BVB-Retter
Von 1987 bis 1992 arbeitete er als Technischer Direktor beim 1. FC Köln, von einem journalistischen Intermezzo als Kolumnist der damals neu auf den Markt gekommenen Sport Bild (1988-90) abgesehen. In Köln wurde sein Talisman, ein blauer Pullover, zum Garanten einer Serie von 15 Spielen ohne Niederlage. Beendet wurde sie - ausgerechnet - von Otto Rehhagels Bremern. Mit dem Kollegen verband ihn eine herzliche Abneigung, weil Rehhagel als junger Trainer mit Offenbach allzu freudig Tore gegen Bayern bejubelte. Lattek: „Da hab ich ihm gesagt: ‚Das kriegst Du Dein Leben lang zurück.‘“ Von solchen Sticheleien lebte der Fußball seiner Zeit, die Medien dankten es.
Auch, dass er 1992 wieder auf den Rasen zurückfand. Sein Vertrag mit Schalke 04 wurde handschriftlich fixiert - und publik. Er erhielt kein Gehalt, nur Prämien. Sonderbare Prämien. Eine Million D-Mark war es dem eigenwilligen Präsidenten Günter Eichberg wert, wenn Schalke in den UEFA-Cup käme, weitere 500.000 DM, wenn man vor dem BVB landen würde.
Schalke schien seine letzte Trainerstation zu sein, bei seinem Rücktritt („Ich habe keine Lust mehr, mir den Hintern nass regnen zu lassen“) war er gerade 58 geworden. Aber im Leben kommt es bekanntlich öfters anders als man denkt.
1998 wollte ihn der Iran verpflichten, als WM-Trainer. Er lehnte nach einigem Zögern ab. Einmal sagte er doch noch „Ja“!
Trotz seiner Schalker Vergangenheit warb die Dortmunder Borussia im April 2000 um seine Dienste als Retter in der Abstiegsnot. Es war die Sensation der Saison. „Kein Witz. Lattek wird Dortmund-Trainer!“, lautete die Schlagzeile von Spiegel Online. Er nahm nur an, weil er nach seiner Flucht nach Barcelona 1981 aus einem laufenden Vertrag heraus das Gefühl hatte, dem BVB noch etwas zu schulden.
Fünf Spiele hatte er bei seinem kurzen Wechsel vom Dopa-Stuhl auf die BVB-Bank Zeit, den Abstieg zu verhindern. Dafür erhielt der allzeit Geschäftstüchtige eine Million Mark. Das Training leitete Matthias Sammer, die Reden hielt der Altmeister. „Es war, als wenn einer das Fenster aufgerissen hätte und frische Luft rein kam“, erinnerte sich Weltmeister Jürgen Kohler an den Lattek-Effekt. Die Rettung glückte, in vier Spielen.
Mit 65 ging Udo endlich in Rente. Aber als TV-Experte und Kolumnist der Welt am Sonntag und bei SPORT1 verschaffte er sich weiterhin Gehör. 2005 antwortete er auf die Frage, wo es denn am schönsten war: „Eigentlich immer da, wo ich gerade war.“ Wohl dem, der das sagen kann.
Für seine allerletzten Tage galt das leider nicht mehr, wobei es ein Trost gewesen sein mag dass er das kaum noch realisierte. Udo Lattek starb in einem Pflegeheim. Hinter ihm lagen zwei Schlaganfälle, eine Gehirntumor-OP und eine Parkinson-Diagnose. Zuletzt litt er an Altersdemenz.
Die Erinnerung der Fußballnation an einen ihrer größten Trainer und Entertainer in der deutschen Fußballgeschichte: Sie lebt umso mehr.