Lange Zeit genoss Bayer Leverkusen das Image, hochtalentierte Fußballer in großer Zahl auszubilden und ihnen optimale Entwicklungsbedingungen zu bieten. Doch dieser Ruf hat in den letzten Jahren merkliche Kratzer bekommen. So findet sich auf der Liste der Spieler, die aus der eigenen Jugend in den aktuellen Profikader aufgerückt sind, nur ein einziger Name: Niklas Lomb. Als dritter Torhüter ist der heute 31-Jährige allerdings weit davon entfernt, ein Leistungsträger zu sein.
Kampf gegen Bayers größtes Problem
Einer, der die Jugendabteilung wieder in die Spur bringen sollen, ist U19-Trainer Sergi Runge. Der gebürtige Spanier wechselte im März 2022 aus La Masia, der weltweit bekannten Talentschmiede des FC Barcelona, ins Rheinland und betreut dort nun eine Generation, von der man sich beim Double-Sieger besonders viel verspricht. Erste positive Entwicklungen sind bereits erkennbar, sein Team wurde in der vergangenen Saison Vizemeister - damals noch bei den B-Junioren. SPORT1 hat mit ihm gesprochen.
SPORT1: Herr Runge, der Verein Bayer Leverkusen hat in den vergangenen zwei Jahren eine gigantische Entwicklung genommen. Doch es gibt einen kleinen Makel: Seit Kai Havertz, der sein Bundesliga-Debüt im September 2016 feierte, setzte sich kein Jugendspieler mehr dauerhaft bei den Profis fest. Woran liegt das?
Sergi Runge: Das ist wirklich ein bisschen her. Warum es seitdem nicht mehr geklappt hat, können andere besser beurteilen. Ich kann aber sagen, dass meiner Meinung nach hier in der Nachwuchsarbeit in den letzten Jahren einige Schritte nach vorne gemacht wurden.
SPORT1: Und zwar welche?
Runge: Thomas Eichin (Direktor Lizenz) und Jefta Bresser (Leiter des Leistungszentrums) bewegen viel. Hier sind schlaue Leute an Bord, die den Nachwuchs noch besser fördern. Es wurde eine klare Spielidee entwickelt, die sich von den Profis über die Jugend nach unten durchzieht. Und es wird versucht, ähnlich zu trainieren. Auch unsere athletische Abteilung arbeitet eng mit dem Staff der Profis zusammen. Wenn wir geduldig sind, werden all diese Sachen dazu führen, dass gute Ergebnisse zu sehen sind.
„Man sieht, wie klein der Schritt nach oben manchmal sein kann“
SPORT1: Erste Anzeichen sind bereits sichtbar. Francis Onyeka und Artem Stepanov waren zuletzt feste Bestandteile des Bundesliga-Kaders von Xabi Alonso, als es dort verletzungsbedingte Ausfälle gab. Auch Kerim Alajbegović und Ben Hawighorst durften schon reinschnuppern. Wie stolz sind Sie auf die Jungs?
Runge: Die ganze Nachwuchsabteilung und auch ich persönlich sind natürlich sehr stolz. Sowas ist ein langer Prozess und ein Erfolg des gesamten Vereins, der zeigt, dass wir sehr talentierte Spieler in unseren Reihen haben. Am Ende des Tages ist es aber auch die Aufgabe der Jugend, die Profis zu unterstützen - egal ob unter der Woche im Training oder am Wochenende im Wettkampf. Wir freuen uns, wenn die Jungs im Kader sind und bei den Profis Spielpraxis sammeln können. Das ist auch eine tolle Motivation für alle anderen. Man sieht, wie klein der Schritt nach oben manchmal sein kann.
SPORT1: Geschäftsführer Sport Simon Rolfes gab im April zu verstehen, dass die aktuelle U19-Mannschaft möglicherweise eine Art “goldene Generation" sein könnte.
Runge: Wir vergleichen uns nicht mit älteren oder jüngeren Jahrgängen. Jeder versucht seinen eigenen Weg zu gehen. Aber ich bin ebenso wie Simon Rolfes davon überzeugt, dass einige unserer Jungs, ohne Namen nennen zu wollen, im Profibereich eine sehr gute Rolle spielen können, wenn sie weiter so hart arbeiten.
SPORT1: Wie intensiv ist der Austausch mit Xabi Alonso?
Runge: Da wir auf der gleichen Anlage trainieren und uns häufig sehen, reden wir häufiger miteinander. Das ist nicht formell, sondern passiert regelmäßig, weil wir uns sowieso oft über den Weg laufen. Am intensivsten ist der Kontakt in den Länderspielpausen oder an Tagen, an denen Regeneration auf dem Programm steht. Dann unterstützen wir mit der U19 die Profis, weil sie weniger Spieler zur Verfügung haben als sonst, und wir tauschen uns über alles aus: die Jungs, den Fußball allgemein. Ich versuche, immer etwas zu lernen. Er ist ein Vorbild für mich.
SPORT1: Eine Reservemannschaft gibt es in Leverkusen nicht. Wie wichtig ist es gerade deshalb, dass Spieler aus der U17 und U19 regelmäßig mit der ersten Mannschaft trainieren können?
Runge: Das ist natürlich wichtig. Sie kommen dadurch aus ihrer Komfortzone heraus und werden von anderen Augen beobachtet. Man hört andere Stimmen, erhält andere Korrekturen von anderen Trainern und hat andere Beziehungen zu anderen Mitspielern auf dem Platz. Da ist der Austausch ganz entscheidend, damit sie jederzeit verstehen, wieso, weshalb und warum etwas passiert.
Youth League? „Eine unheimlich schöne Bühne für die Jungs“
SPORT1: Ihre Mannschaft ist in der Youth League unglücklich ausgeschieden. Erhöhen diese Vergleiche auf internationaler Ebene trotzdem die Chancen eines Spielers, den Sprung in die Elite zu schaffen?
Runge: Die Leistungen in der Youth League sind schwer zu bemessen. Einige Teams sind älter als andere. Manche kommen mit der 2. Mannschaft, wir hatten dagegen das jüngste Aufgebot im gesamten Wettbewerb. Dennoch ist es eine unheimlich schöne Bühne für die Jungs, aber auch den Verein. Sich mit den besten Nachwuchsteams Europas zu duellieren, bringt jeden an seine Grenzen, weil die Partien von der Spielweise und der Physis her ganz anders sind. Das ist sehr positiv für die Entwicklung jedes einzelnen Spielers.
SPORT1: Bevor Sie nach Leverkusen gekommen sind, haben Sie von 2020 bis Anfang 2022 in La Masia, der Nachwuchsschmiede des FC Barcelona, die U16 betreut. Dort schaffen so viele Talente den Sprung zu den Profis wie nirgendwo sonst. Was unterscheidet diese Akademie von anderen?
Runge: In Barcelona spielen ohnehin die besten Talente, dazu gibt es dort sehr kompetente Trainer und Funktionäre. Es ist schwer zu beschreiben, weil am Ende nicht nur ein Faktor entscheidend ist, sondern sehr viele. Sie haben eine ganz klare Philosophie im gesamten Verein und eine Spielkultur, die in allen Mannschaften, egal ob Jugend oder Profis, gleich ist. Das führt dazu, dass auch der Nachwuchs auf dem Platz sehr erwachsen auftritt und sich durch ein kollektives Denken auszeichnet, was den Schritt in den Herrenbereich kleiner macht. Wahrscheinlich ist es die Mischung: hervorragendes Personal, viele Talente, gutes Scouting und eine klare Philosophie.
SPORT1: Bei den Katalanen trainierten Sie unter anderem einen gewissen Lamine Yamal. Wann haben Sie gemerkt, dass es für den Jungen in diesem Tempo so hoch hinaus gehen kann?
Runge: Niemand hätte gedacht, dass Lamine so schnell bei den Profis performen kann. Mit 15 das Debüt in La Liga, mit 16 in Spaniens Nationalteam - das ist einfach Wahnsinn. Aber in Barcelona haben viele Leute, die dort seit langer Zeit arbeiten, schon sehr früh gesagt, dass er das größte Talent aus La Masia der letzten 15 bis 20 Jahre ist. Als Co-Trainer musste ich selbst immer wieder gegen oder mit ihm spielen - das sind typische Situationen, wenn ein Spieler im Training fehlt. Da merkte man sofort, dass er von einem anderen Planeten ist. Er hatte unglaubliche Aktionen. Oft waren seine Füße am Boden und bewegten sich nicht, dann hat er nur mit seinem Körper eine Finte gemacht und dich aussteigen lassen.
Wechsel nach Deutschland? „Heute bin ich froh“
SPORT1: Was ist das Schönste daran, Nachwuchsspieler zu trainieren?
Runge: Das Besondere an der Arbeit mit jungen Talenten ist, ihre generelle Entwicklung zu verfolgen. Diese hängt von unzähligen Faktoren ab, man kann nichts vorhersagen. An den Stärken der Spieler zu arbeiten, ist das eine. Ihre Schwächen zu erkennen und dort den Hebel anzusetzen, das andere. Viele Schritte oder Situationen haben die Jungs noch nie erlebt - der erste Einsatz in der Youth League, die erste Nominierung für eine Junioren-Nationalmannschaft, das erste Training bei den Profis. Emotional sind sie noch nicht so reif wie Erwachsene. Ihnen dann helfen zu können, macht mir unheimlich viel Spaß.
SPORT1: Dennoch ist es kein Geheimnis, dass viele Talente am Ende auf der Strecke bleiben. Wie geht man damit um?
Runge: Da müssen alle mithelfen. Nicht nur mein Trainerteam und ich, auch das Umfeld, die Familie, Freunde und Berater. Das Wichtigste ist, ehrlich miteinander umzugehen, damit Rückschläge und schlechte Nachrichten nicht überraschend kommen. Ich will meinen Jungs aber auch vermitteln: Selbst wenn sie es zu den Profis schaffen, gibt es ein Leben nach dem Fußball. Was machst du dann? Klar, im Optimalfall verdient man so viel Geld, dass man nach der Karriere ausgesorgt hat. Es gibt aber viele Fälle, in denen das nicht der Fall ist. Darauf muss man vorbereitet sein - gerade als junger Spieler.
SPORT1: Sie waren bisher ausschließlich als Jugend- und Co-Trainer tätig. Wie sieht Ihr nächster Schritt aus?
Runge: Ich sehe mich auf jeden Fall weiterhin auf dem Platz, sei es als Chefcoach oder als Co-Trainer. Ich bin voller Energie. Dass ich irgendwann einmal in den Männerbereich wechseln möchte, ist logisch. Da mache ich mir aber überhaupt keinen Stress. Im Moment fühle ich mich bei der U19 sehr wohl und ich bin jemand, der sich gerne vom Leben überraschen lässt. Kein Schritt, den ich bisher gemacht habe, war genau so geplant. Hätte man mich vor fünf Jahren gefragt, ob ich heute in Deutschland arbeiten würde, hätte ich auch “nein” gesagt. Heute bin ich sehr froh, diesen Schritt gemacht zu haben.