In jedem Ende liegt ein neuer Anfang. Genau so verhielt es sich bei Borussia Dortmund am 14. November 2004. Dieser Tag bedeutete für die Schwarz-Gelben das Ende einer sehr erfolgreichen Ära - und stand für den Anfang einer neuen.
Wie ein Fax eine BVB-Ära beendete
Auf der einen Seite erklomm Dr. Reinhard Rauball als frisch gebackener BVB-Präsident das Podium, auf der anderen Seite verkündete Präsident Dr. Gerd Niebaum seinen Rücktritt. Es ging der Mann, unter dessen 18 Jahre währender Regentschaft Dortmund dreimal Deutscher Meister wurde und 1997 zum erstem und einzigen Mal die Champions League gewann.
Ein ehrenvoller Abgang war es trotz der Erfolgsbilanz nicht: Niebaum wurde am Ende jahrelange und existenzbedrohende Misswirtschaft zum Verhängnis - und eine brisante Enthüllung, die ihn der Lüge überführte.
BVB kämpft um seine Existenz
Unter Niebaum und Manager Michael Meier hatte die Borussia vor dem folgenden Umbruch ein Saison-Minus von 67,7 Millionen Euro und 118,8 Millionen Euro Gesamtverbindlichkeiten bekannt gegeben. Eine Insolvenz drohte, doch die Verantwortlichen wollten den BVB selbst zurück zum Erfolg führen.
Vor der Mitgliederversammlung im Herbst 2004 erwarteten die BVB-Bosse einen großen Aufstand, doch lediglich 1745 Stimmberechtigte hatten sich in der extra angemieteten Westfalenhalle eingefunden.
Der große Andrang war ausgeblieben, der erwartete Spießrutenlauf für Niebaum und Meier wurde es dennoch. „Für fünfeinhalb Stunden müssen sie sich wie in der Hölle fühlen“, schrieben die Ruhr Nachrichten rückblickend.
Niebaum wollte den Neuaufbau selbst einleiten
„Sie können hier und heute nicht eine zweite Chance einfordern“, hatte Hermann Heinemann, ehemaliger NRW-Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales von der SPD, klargestellt. Die zweite Chance hätte Niebaum bereits gehabt, „mit dem Geld aus dem Börsengang“.
Am 31. Oktober 2000 war der BVB diesen radikalen Schritt gegangen. Mit der Herausgabe der BVB-Aktie (11 Euro kostete sie zum Start) generierte der Klub 130 Millionen Euro, mit denen zu Teilen Schulden abbezahlt wurden.
Heinemann, der ein Jahr später im Alter von 77 Jahren verstarb, hatte betont, dass er in seinem Leben schon viel erlebt habe, allerdings noch nie, „dass jemand, der einen Betrieb an die Wand gefahren hat, auch den Neuaufbau einleiten soll“. Doch für ein Umdenken bei Niebaum sollten diese Aussagen nicht sorgen.
„Fax-Affäre“ sorgt für Niebaums Ende
Erst die berühmt-berüchtigte „Fax-Affäre“ brachte das Kartenhaus zum Einstürzen. Zunächst hatten der kicker und die Süddeutsche Zeitung davon berichtet, dass Niebaum im Herbst 2004 80 Prozent der neuen Aktien an den umstrittenen Hedge-Fonds-Manager Florian Homm verkauft hätte - für 20 Millionen Euro und Macht und Einfluss. Denn Homm hätte im Gegenzug zwei seiner Vertrauten im Aufsichtsrat und drei im Beirat installieren dürfen.
Anfangs stritt Niebaum diese Berichte ab, bezeichnete die Journalisten als „Zerstörer“. Er habe eine solche Vereinbarung niemals unterschrieben. Er geht sogar so weit zu behaupten, das zweiseitige Schreiben, welches schon in Teilen veröffentlicht wurde, sei entweder „ein übler Scherz“ oder „eine glatte Fälschung“.
Der auf Mallorca lebende Homm pflichtete ihm bei, verkündet in der Bild: „Niebaum hat hundertprozentig recht. Das Schreiben ist eine plumpe Fälschung. Die Adresse auf dem Briefbogen ist falsch. Und dieses Briefpapier benutzen wir überhaupt nicht.“
Doch dann veröffentlichen kicker und SZ das Originalpapier, durch das unmissverständlich ersichtlich wurde, dass Niebaum gelogen hatte.
Als Folge verkündete er nur drei Tage später, am 17. Oktober 2004, seinen Rücktritt. Am 14. November wurde dieser dann offiziell, nach insgesamt 18-jähriger Amtszeit.
In der Westfalenhalle hielt er an diesem Tag noch einmal eine emotionale Rede und erklärte, die Borussia sei „ein Stück Lebensqualität und Lebensgefühl“. Zugleich übernahm er auch Verantwortung für die „belastende und beunruhigende“ Entwicklung des BVB.
Reuter verteidigt Niebaum
20 Jahre später bleibt das Vermächtnis von Niebaum und Manager Meier ambivalent. Der langjährige BVB-Präsident habe sehr viele „mutige Entscheidungen“ getroffen, darunter seien anfangs auch „sehr viele richtige“ gewesen, zitieren die Ruhr Nachrichtenden früheren BVB-Kapitän und Augsburg-Manager Stefan Reuter.
„In den letzten Jahren als Präsident hat er phasenweise ein zu hohes Risiko gewählt“, machte der heute 58-Jährige, der 421-mal für den BVB auf dem Feld stand, allerdings auch klar.
Meier: „Bin mit dem BVB im Reinen“
Auch Meier, der 2005 nach 16 Jahren beim BVB aufhörte, ordnet die Geschehnisse inzwischen etwas positiver ein. „Die Geschichte ist geschrieben. Auch meine Rolle wird in der Rückschau nicht mehr so negativ gesehen wie damals“, sagte der Ex-Manager 2022 im SPORT1-Interview. „Insofern war und bin ich mit dem BVB im Reinen und kann mich an der positiven Weiter-Entwicklung des BVB genauso erfreuen.“
Anders als Meier, der regelmäßig im Signal Iduna Park anzutreffen ist, ging der heute 76 Jahre alte Niebaum auf Abstand. Zur Hundertjahrfeier des Klubs im Jahr 2009 erschien er noch, eine Einladung zum Finale der Champions League gegen Real Madrid schlug er allerdings aus. „Ich hätte ihm gewünscht, dass er mit Borussia Dortmund und den Verantwortlichen Frieden schließt“, ließ Ex-Kapitän Reuter verlauten, doch daraus wurde augenscheinlich nichts.
Niebaum geriet auch nach seiner BVB-Zeit mehrfach in die Negativschlagzeilen: 2012 wurde ihm die Anwaltszulassung entzogen, 2015 wurde er wegen Untreue, Kreditbetrug und Urkundenfälschung zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.
Ohne Niebaum wie Rot-Weiß Essen?
Heiko Herrlich, der 1995 als Bundesliga-Torschützenkönig zu den Schwarz-Gelben stieß, hatte dennoch positive Worte für Niebaum übrig. Denn trotz aller Skandale habe der langjährige BVB-Präsident einen Anteil an der folgenden Erfolgsgeschichte.
Wenn er nicht so groß gedacht hätte, „vielleicht wäre der BVB heute ein Verein wie Rot-Weiß Essen“, meinte Herrlich. Niebaum „verdient Respekt, war aber auch Hauptverantwortlicher des wirtschaftlichen Niedergangs. Irgendwann hat er zu viel gewagt.“
Dass sein Nachfolger Dr. Reinhard Rauball an Niebaum sportliche Erfolge anknüpfen würde können, damit hatte 2004 wohl niemand gerechnet. Doch Rauball prägte eine Erfolgsgeschichte, wurde unter seiner Führung bis zum Ende seiner Amtszeit im Jahr 2022 doch zwei Meisterschaften und drei DFB-Pokalsiege gefeiert. Zudem erreichte der BVB zwei Champions-League-Finals. In der Klub-Geschichte ist er nicht nur als Retter von Borussia Dortmund bekannt, sondern auch als Ehrenpräsident gewürdigt.