Florian Wirtz war von Anfang an genervt. Schon nach zwei Minuten gestikulierte er zum ersten Mal wild in Richtung Schiedsrichter Robert Hartmann und forderte Konsequenzen für die harte Bochumer Gangart, Ibrahima Sissoko hatte ihn zuvor heftig am linken Knöchel getroffen. Leverkusens Spielmacher musste sich kurz sammeln, konnte dann aber ohne Behandlung weitermachen. Nur die Laune litt sichtlich, einschüchtern ließ er sich allerdings nicht.
Wirtz ... und sonst eben nichts
Immer wieder versuchte Wirtz, die Begegnung an sich zu reißen, ging gewohnt mutig in die Dribblings und schickte seine Mitspieler im richtigen Moment in die Lücken. Herausragend gelang ihm das nach 18 Minuten, als er Patrik Schick mit einem traumhaften Steckpass bediente. So hatte der Stürmer freie Bahn und schob durch die Beine von VfL-Keeper Drewes ins rechte untere Eck zur Führung ein. In der Folge kontrollierte die Werkself den angeschlagenen und nach wie vor sieglosen Tabellenletzten lange - verpasste es aber erneut, „das Spiel zu schließen“, wie es Trainer Xabi Alonso formulierte.
Ist Bayer zu abhängig von Wirtz‘ Magie?
Denn Leverkusen ist eben nicht mehr das Leverkusen der Vorsaison und so kam es, wie es kommen musste: Gegen eine völlig harmlose Werkself wurde Bochum immer selbstbewusster. Der Lohn folgte kurz vor Schluss, als Koji Miyoshi aus spitzem Winkel den kaum noch für möglich gehaltenen Ausgleich zum 1:1 erzielte. Auf der einen Seite löste das natürlich überschwänglichen Jubel aus, auf der anderen zunehmende Ratlosigkeit. Auch bei Wirtz, der als Alleinunterhalter nichts mehr korrigieren konnte, von seinen Teamkollegen zu oft im Stich gelassen wurde und enttäuscht vom Platz ging.
In Leverkusen ist die Mängelliste lang: Von großen Problemen in der Defensive war zu Saisonbeginn die Rede; von fehlender Gier angesichts der zurückliegenden Spielzeit, als die Mannschaft um Xabi Alonso die totale Dominanz entwickelte, von ihm stets perfekt gecoacht wurde und nahezu fehlerfreien Fußball aus einem Guss zelebrierte. In diesem Zusammenhang fiel auch das Wort Selbstzufriedenheit. Die Offensive hingegen schien nie ein Thema für die anhaltende Frustration unter dem Bayer-Kreuz zu sein. Bis jetzt.
Schlißelich zeigte sich in den vergangenen Wochen immer mehr, dass die Werkself zu oft von Wirtz abhängig ist, wenn es darum geht, gefährliche Angriffe zu kreieren. Häufig wirkt das eigene Spiel zu statisch und lebt fast ausschließlich von den Impulsen des Nationalspielers. Der 21-Jährige ist der zentrale Spielgestalter des Double-Gewinners, schleicht sich unentwegt zwischen die gegnerischen Ketten, zieht das Tempo blitzschnell an, schießt Tore, leitet sie ein, bereitet sie vor, ist häufig Ideengeber und ausführende Kraft zugleich.
Auch Wirtz sind Grenzen gesetzt
Aber selbst Außnahmekönnern wie Wirtz sind natürliche Grenzen gesetzt. Einzelne Tage oder kleine Phasen innerhalb eines Spiels, in denen ihm weniger brauchbare Aktionen als sonst gelingen, sind unvermeidlich - wie zuletzt bei der 0:4-Klatsche in Liverpool oder der zweiten Halbzeit am Sonntag in Bochum. Bloß lautet das große Problem im Gegensatz zur Vorsaison: Andere, die Bayers Schlüsselfigur in der Offensive entlasten könnten, drängen sich nicht auf.
Kein Wunder also, dass es zuletzt einige enttäuschende Ergebnisse hagelte: Fünf Remis in den vergangenen sechs Ligaspielen, nur ein Sieg - und die Tatsache, dass viele Spieler, die in der vergangenen Saison fast wöchentlich direkt oder indirekt an Toren beteiligt waren, aktuell außer Form sind. Ob Alejandro Grimaldo, Jeremie Frimpong, Victor Boniface oder der noch angeschlagene Martin Terrier - sie alle fallen momentan eher dadurch auf, dass sie sich den Ball hauptsächlich in ungefährlichen Zonen zuspielen oder schlicht der Mut fehlt.
Erstaunlich ist dies vor allem bei Grimaldo. Der Spanier gehört neben Wirtz normalerweise zu den Taktgebern und Kreativspielern des Teams. Nicht die Kernkompetenz eines nominellen Linksverteidigers, aber die Leverkusener rotieren ihre Positionen gerne durch. Ein häufig gesehenes Muster: Wirtz lässt sich weit links rausfallen und besetzt die linke Schiene. Dann zieht Grimaldo von der linken Defensivseite ins Zentrum, anstatt den Flügel nach vorne zu bearbeiten. Allerdings auch ein Muster, von dem Grimaldo in den vergangenen Spielen kaum mehr profitieren konnte.
Wirtz braucht wieder mehr Hilfe
Ähnlich ergeht es Frimpong auf der rechten Bahn. Der pfeilschnelle Niederländer kommt seit Wochen nicht mehr in seinen gewohnten Sportmodus, läuft sich oft fest oder ins Abseits und leidet unter einer akuten Abschlussschwäche. Auch der sonst so starke Boniface kann sich nur noch selten behaupten und Bälle halten, wie er es zu Beginn der Saison vermochte. Und selbst aus dem stets hochgelobten Zentrum, das in Bochum aus Granit Xhaka und Robert Andrich bestand, kommt zurzeit wenig Kreatives.
In der anstehenden Länderspielpause will Alonso das jüngste Formtief genau analysieren: „Es ist wieder das gleiche Gefühl wie gegen Kiel. Wir konnten das Spiel nicht gewinnen und haben kurz vor Schluss den Ausgleich kassiert. Daran müssen wir jetzt arbeiten und lernen, mit Führungen richtig umzugehen.“ Eine der Lehren dürfte sein, in Zukunft wieder frühzeitig und energischer auf das zweite oder dritte Tor zu drängen. Dafür braucht Kreativdirektor Wirtz aber deutlich mehr Unterstützung.