Die Bayern kommen! Schon vor 48 Jahren war das Heimspiel gegen die Münchner für fast jeden Bundesligisten die Attraktion der Saison. Im September 1976 standen sie nicht mehr auf der Höhe ihrer Schaffenskraft, aber fraglos auf dem Gipfel der Popularität. Hatten sie doch im Mai den Europacup-Hattrick im Landesmeister-Pokal vollbracht.
Die unglaublichste Aufholjagd
Unter dem Kraftakt auf internationalem Parkett litt allerdings die Leistung im Alltag, schon seit zwei Jahren waren sie nicht mehr Meister geworden. Die Chance, ihnen ein Bein zu stellen, war in jenen Tagen so groß wie nie für kleinere Klubs wie den VfL Bochum, der auch am Sonntag (15.30 Uhr im LIVETICKER) wieder in den Kampf „David gegen Goliath“, konkret Letzter gegen Erster, zieht. Heute erscheint er etwas aussichtsloser als 1976.
Bochum empfängt Bayern vor dürftiger Kulisse
Die Westdeutschen hätten sich die Bayern damals dennoch lieber zu einem späteren Zeitpunkt als Gast gewünscht, denn das Ruhr-Stadion wurde umgebaut und obwohl der VfL ausverkauft meldete, war die Kulisse vergleichsweise dürftig: Nur 17.000 konnten die großen Bayern mit fünf amtierenden Weltmeistern sehen.
Sie kamen als Tabellenfünfter, Bochum war Elfter und die Favoritenfrage geklärt: Die Bayern hatten zuletzt mit 9:0 gegen Tennis Borussia Berlin gewonnen und mittwochs noch ein 5:0 beim dänischen Meister Köge BK im Europacup angefügt - die Torfabrik lief auf Hochtouren im Spätsommer 1976. Doch Sepp Maier sollte nie mehr Tore kassieren als in dieser Saison.
Bayern mehr Wundertüte als Wunderteam
Dieser FC Bayern war mehr Wundertüte als Wunderteam und es herrschte Unruhe. Ihr Anführer, Weltstar Franz Beckenbauer, trug sich angesichts einer zerbröckelnden Ehe und Steuernachforderungen, was alles in der Presse ausgebreitet wurde, mit Abwanderungsgedanken.
Das gelobte Land für alternde Stars war damals die USA. Am Tag vor dem Spiel erschien prompt ein Mister Clive Toye, Präsident von Cosmos New York, im Bayern-Quartier. Im Hotel Krummenweg in Breitscheid traf er Beckenbauer und stellte die Weichen für einen der spektakulärsten Transfers der Bundesligageschichte, der im Frühjahr 1977 unter viel Getöse vollzogen wurde.
Im September 1976 ließ Toye die Journalisten nur so viel wissen: „Ich bin ausgezogen, einen Fisch zu fangen.“ Ob dem Kaiser der Sprung über den großen Teich wohl den Kopf verdrehte? Man hat ihn jedenfalls schon besser spielen sehen, die von ihm zu organisierende Bayern-Abwehr war vogelwild.
Trainer Dettmar Cramer ahnte davon nichts, er hatte andere Sorgen: „Meine Mannschaft neigt mehr als jede andere zur Überheblichkeit, was mit den Erfolgen der Vergangenheit zusammenhängt.“ Hatten diese Bayern überhaupt Lust auf Bochum? Danach sah es nicht wirklich aus.
Der Spielverlauf, der in die Geschichte einging
Bayerns Schwede Conny Torstensson vergab gegen Torwart Werner Scholz die Chance zur Gästeführung, danach trumpfte der VfL auf. Dem früh für Verteidiger Christoph Franke eingewechselten Harry Ellbracht gelang das 1:0 (24.), Mittelstürmer Jupp Kaczor düpierte Beckenbauer und erhöhte auf 2:0 (38.) und wiederum Ellbracht (43.) sorgte für den sensationellen Pausenstand von 3:0.
Es hätte auch 4:0 heißen können, denn nach dem dritten Tor bestürmten die Bayern Schiedsrichter Werner Horstmann, weil dieser seinen Abseits winkenden Linienrichter schlicht ignoriert hatte. Auch Sepp Maier war im Pulk, während das Spiel schon wieder lief. Ein Bochumer, den die Chronisten nicht übermittelten, schoss frech aus der eigenen Hälfte aufs leere Tor und verfehlte es nur knapp.
In Bochums Kabine, erzählte Kaczor 35 Jahre später dem kicker, „herrschte natürlich eine euphorische Stimmung. Wahrscheinlich hat jeder bei sich gedacht: Heute hauen wir den Bayern den Laden voll.“
„Reden wir uns ein, dass es 0:0 steht“
Trainer Heinz Höher hatte seine liebe Mühe, die Spieler in ihrem Übermut zu bremsen. Kollege Cramer versuchte dagegen zu tricksen: „Wenn es nur 0:2 stünde, wäre ich ganz sicher, dass wir noch gewinnen“. Es stand aber 0:3 – doch auch das schien Cramer zu ignorieren und so schickte er sie mit den Worten „Reden wir uns ein, dass es 0:0 steht“ wieder aufs Feld.
Es wurde aber noch schlimmer: in der 53. Minute erhöhte Bochums Hans-Joachim Pochstein auf 4:0. Es war die Blütezeit der Radiokonferenz und WDR-Reporter Armin Haufe meldete sich nach diesem Tor mit der Einleitung „Arme Bayern!“ aus dem Ruhr-Stadion.
Cramer wurde auf der Bank immer kleiner und gestand: „Beim 0:4 habe ich gedacht: jetzt lassen sie die Flügel hängen.“ Stattdessen wuchsen ihnen Flügeln. Eine schlüssige Erklärung für die Ereignisse in den folgenden 35 Minuten gibt es bis heute nicht. „So was kannst du eigentlich nicht mehr vergeigen, selbst gegen die Bayern nicht“, gab Kaczor die Stimmung im VfL-Team wieder. Aber sie konnten.
Karl-Heinz Rummenigge machte den Anfang: 4:1 (55.). Dann wagte sich Vorstopper „Katsche“ Schwarzenbeck nach vorne - 4:2 (57.). Endlich trat nun der eigentlich für Bayern-Tore Zuständige in Erscheinung: Gerd Müller, Rekord-Torschütze der Bundesliga und bis 2014 auch der Nationalmannschaft, verkürzte auf 4:3 (63.). Kaczor: „Da hätten wir uns vielleicht sagen sollen: Lass uns mal versuchen, hinten dicht zu machen. Aber im Ruhr-Stadion gab es immer nur das volle Programm: nach vorne.“
Fünf Auswärtstore in 20 Minuten
Das ging nach hinten los: In der 74. Minute erhielten die Bayern einen Foulelfmeter und Müller ließ sich die Chance nicht entgehen. Vom Anstoß eroberten sie sich wieder den Ball und Weltmeister Uli Hoeneß überwand Scholz ein fünftes Mal. Fünf Auswärtstore in 20 Minuten - auch das war ein echtes Bundesliga-Novum.
In der VfL-Abwehr stand ein gewisser Hermann Gerland, der später zum Kult-Co-Trainer der Bayern avancieren sollte. Immer wenn ihm Bayern-Vorstand Rummenigge später über den Weg lief, zog der ihn gern auf mit dem Spiel von 1976, als den Bochumern der Sieg aus den Händen geronnen war.
Dabei kamen sie noch mal zurück: Kaczor glich zum 5:5 aus (80.), Jupp Kapellmann fälschte unhaltbar ab. Per Fallrückzieher wäre Kaczor fast noch das 6:5 gelungen. Stattdessen schlug es im Gegenzug bei Scholz ein - wieder war Hoeneß der Schütze. Es war der Schlussakt einer wilden Tor-Hatz.
Die Bundesliga hatte ihr erstes und bis dato einziges 5:6 - und den einzigen Sieg einer Mannschaft nach Vier-Tore-Rückstand. „Unfassbar, so ein Spui“, sagte Sepp Maier fassungslos im besten Bayerisch. Ein Spiel, das nur wenige sehen durften - nicht nur wegen der Umbauarbeiten.
Keine Berichterstattung im Fernsehen
Die ARD-Sportschau zeigte damals nur von drei Spielen Ausschnitte und hatte ihre Kameras an anderen Schauplätzen postiert. Auch im Sportstudio gab es keinen Bericht!
Als TV-Journalist Arnd Zeigler vor einigen Jahren in seiner Sendung „Zeiglers wunderbare Welt des Fußballs“ einen Aufruf startete, kamen wenigstens Privataufnahmen eines Fans, die im Bochumer Stadtarchiv lagern, zum Vorschein. Ansonsten bleibt dieses Spiel für die Nachwelt ein Mysterium, das niemand mehr analysieren kann, so gern es mancher schon mochte.
„Einige griffen völlig ausgelaugt sogar zum Alkohol“
Natürlich war eine solche Partie mit dem Abpfiff nicht vorbei. In Bochums Kabine flossen Tränen, später am Tresen der Gerstensaft. Empört schrieb der kicker: „Die Spieler waren noch beim gemeinsamen Abendessen völlig konsterniert. Einige griffen völlig enttäuscht und ausgelaugt sogar zum Alkohol.“
Präsident Ottokar Wüst versuchte die Verlierer aufzumuntern: „Ihr habt 50 Minuten lang Superfußball gespielt. Wir sind auf dem richtigen Weg.“ Dettmar Cramer, der Philosoph auf der Münchner Trainerbank, sagte auf der Pressekonferenz: „Im Spiel am Tag der offenen Tore hat die bessere Mannschaft gewonnen.“ Dem kicker schenkte er vier Tage später mit Rückblick auf den Elf-Tore-Tag von Bochum ein Bonmot: „Fußball ist das schönste Scheißspiel, das es gibt.“