Es hätte der nächste Festtag in der BayArena werden sollen, da waren sich in Leverkusen alle einig. Zum 120-jährigen Vereinsjubiläum lief der Double-Gewinner in eigens angefertigten Trikots auf, die an das erste Jersey der Geschichte aus der Saison 1907/1908 erinnerten. Die elektronische Anzeigetafel im Stadion zeigte die Resultate im Retro-Stil an. Und dann lagen sie durch die frühen Tore von Victor Boniface und Jonas Hofmann auch noch ganz schnell mit 2:0 vorne.
Hat Bayer ein Arroganz-Problem?
Keine zehn Minuten waren gespielt und trotzdem schien sich alles nur noch um die Frage zu drehen, wie hoch die Werkself das Ergebnis gegen den Bundesliga-Aufsteiger noch schrauben könnte. Immerhin schafften es die Kieler kaum, überhaupt mal die Mittellinie zu sehen, so einseitig ging das Match los. Was dann aber passierte, hätten wohl selbst die größten Optimisten unter den mitgereisten Gäste-Fans nicht für möglich gehalten: Eine unglaubliche Wende aus dem Nichts, da Bayer plötzlich aufhörte zu arbeiten.
Hradecky wütet: „Wir nehmen den Fuß vom Gas“
Die gar nicht so überraschende Folge: Keine anderthalb Stunden später stand es 2:2 - eine gefühlte Niederlage für Leverkusen, ein gefühlter Sieg für die Norddeutschen, deren Anhänger am Ende nur noch Häme übrig hatten. „Und ihr wollt Deutscher Meister sein?“, hallte es aus der freudig feiernden Kieler Kurve. Ganz anders die Gemütslage bei den Hausherren, die zwei Punkte mehr oder weniger verschenkt hatten, weil sie sich im Laufe der Partie selbst einlullten und jede Konsequenz vermissen ließen.
Kein neues Phänomen im Team von Xabi Alonso, die Wut von Kapitän und Torwart Lukas Hradecky fiel umso größer aus. „Ein 2:0 darfst du nicht herschenken, egal ob gegen Kiel, den AC Mailand oder Bayern. Vor allem nicht in unserem Stadion. Wir lassen, metaphorisch gesagt, den Patienten leben. Wir nehmen den Fuß vom Gas, diese Gier und Giftigkeit habe ich leider nicht mehr gesehen“, redete sich der Finne hinterher in Rage und musste sich dort auch der zentralen Frage stellen, die am frühen Samstagabend noch oft formuliert werden sollte: Hat Leverkusen ein Arroganz-Problem?
Bayer hat eine seiner größten Stärken verloren
Eine 2:0-Führung ist ein gefährliches Ergebnis, das geistert schon lange durch den Fußball. Doch Leverkusen füllt diese Floskel seit Saisonbeginn derart mit Leben, dass es allen Beteiligten angst und bange werden muss. War es vor der Sommerpause noch eine der größten Stärken, auch bei einer Führung keine Sekunde nachzulassen und den Gegner gar nicht erst ins Spiel kommen zu lassen, so hat sich das Bild inzwischen komplett gewandelt. Hier ein unnötiger Fehlpass, da ein Ausrutscher, dort ein unerklärlicher Ballverlust.
Allein die sechs bisherigen Bundesliga-Spiele zeigen das Problem: 2:0 in Gladbach geführt, den Vorsprung aus der Hand gegeben, den Kopf aber noch aus der Schlinge gezogen. 2:0 gegen Leipzig geführt und 2:3 verloren. 2:0 gegen Hoffenheim geführt und vor der Pause den Ausgleich nur mit Glück verhindert. Und gegen Wolfsburg zwar nicht mit zwei Toren vorne gelegen, trotzdem in der ersten Halbzeit eine Führung hergeschenkt. Während Bayer in der Meistersaison bei eigenem Vorsprung keinen einzigen Punkt mehr abgab, in dieser Spielzeit sind es schon deren sieben.
Den Vorwurf der Arroganz wollte allerdings keiner auf sich sitzen lassen. „Das ist vielleicht ein starkes Wort“, betonte Hradecky. „Aber diese Leichtigkeit und Lockerheit hat etwas anderes ausgestrahlt als Seriosität. So würde ich das eher formulieren.“ Auch Alonso wies das zurück und sprach eher von einer gewissen Selbstgefälligkeit. Gegen Kiel habe nach dem Traumstart die höchste Intensität gefehlt, der Rest sei eine Folge davon gewesen. „Wir waren nicht intelligent, damit bin ich gar nicht glücklich“, haderte der Spanier.
Bayers Warnschüsse helfen noch nicht
Dennoch drängt sich bei der Ursachenforschung der Eindruck auf, dass das Hauptproblem der Leverkusener zwischen den Ohren liegt. Als die Werkself gegen den FC Bayern München und den AC Mailand hart und kompakt verteidigen musste, ging sie an ihre Grenzen. Sobald sie aber von vermeintlich schwächeren Gegnern gefordert wurde, scheint man so manche Aufgabe mit halber Kraft lösen zu wollen. Doch mittlerweile wird immer deutlicher, dass eben nichts mehr so leicht, lässig und selbstverständlich wie in der Vorsaison geht. So ist der Flow und die Überzeugung erst einmal weg.
Selbst die gefürchtete Schlussoffensive, die Bayer sonst in aller Regelmäßigkeit rettete, weil sie den Gegner langsam müde spielten, kam zuletzt kaum noch zum Tragen, erkannte Robert Andrich. „Natürlich kann man immer am Ende hinten raus was machen, das wissen wir und das ist auch unsere Stärke“, sagte der Nationalspieler nach dem Dämpfer am Samstag. „Aber wir dürfen uns nicht darauf verlassen, dass es jedes Mal klappt - gerade in den Spielen, in denen du es vorher viel klarer machen musst.“
Dass die Rückschläge zum Teil auch Pech waren, steht außer Zweifel. So waren Alonsos Männer gegen Leipzig und gegen Kiel eigentlich überlegen, versäumten es aber, ihre zahlreichen Chancen früher zu nutzen. Dass es in der Bundesliga eine wahre Gegentorflut gab, während die Mannschaft in der Champions League zweimal zu Null gewann, ist hingegen schon auffällig. Ob es daran liegt, dass sich der eine oder andere auf der großen Bühne etwas besser motivieren kann? Sie werden es selbst am besten wissen.
Wie reagiert Alonso?
Bleibt nur offen, wie man den Schlendrian wieder abstellen kann. Andrich mahnte schon am ersten Spieltag, dass einige Spieler derzeit nicht den letzten Meter gehen würden - vor allem in der Defensive. Nach dem Last-Minute-Sieg gegen Wolfsburg war es Xhaka, der Alarm schlug und von einem „Riesen-Weckruf für uns alle“ sprach. Hradecky versicherte nun, dass die Stimmung in der Mannschaft gut sei. „Dafür sorgen Granit, Rob und ich“, fügte er hinzu. Geholfen hat das alles bisher nicht.
Vielleicht ist es Alonsos bisher schwierigste Aufgabe, gegen die sich eingeschlichene Selbstgefälligkeit zu kämpfen. Zwar sollte spätestens am Sonntag auch dem Letzten klar geworden sein, dass die Bundesliga kein Selbstläufer ist. Doch ob der aktuelle Meister seit einer gefühlten Ewigkeit gut wegsteckt und zu alter Stärke zurückfindet oder weiterhin ungewohnt anfällig bleibt, wird eine der spannendsten Fragen nach der Länderspielpause sein.