Seit dieser Saison ist Atakan Karazor Kapitän des VfB Stuttgart. Für SPORT1 hat der 27-Jährige nun seine Tür geöffnet und über den turbulenten Sommer der Schwaben gesprochen.
„Hatten wir uns anders vorgestellt“
Karazor, der die Nachfolge des zu Borussia Dortmund abgewanderten Waldemar Anton angetreten hat, verlängerte zuletzt seinen Vertrag in Stuttgart vorzeitig bis 2028 - ein Vertrauensbeweis, obwohl der VfB zuvor zahlreiche Leistungsträger verloren hatte.
Im SPORT1-Interview spricht Karazor über die Abgänge und die Herausforderungen für den VfB.
SPORT1: Herr Karazor, wir befinden uns in Ihrer Wohnung. Wie sehr brauchen Sie diese als Rückzugsort?
Karazor: Sehr. Ich brauche meine Familie, meine Freundin Lisa, meine Freunde und einen eigenen Rückzugsort, um glücklich zu sein. Meine engsten Vertrauten geben mir die Stärke, die ich auf dem Platz brauche. Ich muss dem Fußball-Stress auch mal entkommen. Ich möchte mich zu Hause einfach wohlfühlen, um komplett abschalten zu können.
SPORT1: Sie haben einen prominenten Vormieter. Erzählen Sie ...
Karazor: (lacht) Vor mir hat Konstantinos Mavropanos hier gewohnt. Er hat den VfB im Sommer vor einem Jahr verlassen. Wir sind „Dinos“ sehr dankbar, dass wir die Wohnung übernehmen konnten und haben noch immer einen sehr guten Kontakt.
SPORT1: 2022 gab es Vorwürfe der sexuellen Nötigung gegen Sie und Sie mussten rund sechs Wochen auf Ibiza in Untersuchungshaft verbringen. Sie haben sich dazu bereits im SPORT1-Interview im April dazu geäußert. Gibt es hierzu inzwischen ein Update?
Karazor: Ich habe dafür Verständnis, dass diese Frage aufkommt. Der Fall liegt immer noch bei meinen Anwälten und den spanischen Behörden. Ich hoffe, dass es bald Neuigkeiten dazu gibt und dann kann ich auch öffentlich für mehr Transparenz sorgen.
„Das gibt Energie und ein gutes Gefühl“
SPORT1: Sie schauen von hier auf Stuttgart herunter. Ist das für Sie als Kapitän des VfB etwas Besonderes, diese Aussicht genießen zu können?
Karazor: Auf jeden Fall. Das gibt mir Energie und ein gutes Gefühl. Wenn ich nach Hause komme, möchte ich das Gefühl von Heimat haben. Ich kann mein Stuttgart sehen, und das ist sehr schön. Das macht mich stolz und dankbar.
SPORT1: Können Sie uns von einer wilden Party in Ihrer Wohnung berichten?
Karazor: Lisa und ich stehen nicht so auf wilde Partys zu Hause. Vielleicht liegt es daran, dass wir am nächsten Morgen alles wegräumen müssten. (lacht) Aber es gab die eine oder andere Grillparty bei uns. Da kamen acht, neun Jungs aus der Mannschaft. Kurz bevor Serhou (Guirassy, Anm. d. Red.) zum BVB gewechselt ist, war er noch mit seiner Familie hier, und wir haben nett gegrillt. Da war auch Enzo Millot dabei.
SPORT1: Mit gemischten Ergebnissen ist der VfB in die Saison gestartet. Wie zufrieden sind Sie?
Karazor: Zufriedenheit gibt es bei mir immer nur zu einem kleinen Teil. Wenn ich sehe, welche Trainingsleistungen wir an den Tag legen - das Niveau ist wirklich hoch. Ich suche aber auch immer das Haar in der Suppe, weil ich sehr viel von mir selbst und auch von meinen Mitspielern erwarte. Es war nicht der perfekte Start in die Saison, das hatten wir uns anders vorgestellt. Gegen Mainz haben wir schon das Gesicht aus der vergangenen Saison gezeigt, das uns ausmacht. Jetzt wollen wir so schnell wie möglich unseren ersten Sieg in der Liga landen.
SPORT1: Der VfB hat im Sommer mit Hiroki Ito, Waldemar Anton und Serhou Guirassy drei ganz wichtige Spieler verloren. Ein Schock für sie?
Karazor: Ich war nicht geschockt, weil uns allen klar war, dass uns wichtige Spieler verlassen könnten. Es kam für mich nicht überraschend. Aber solche Spieler zu ersetzen, ist sehr schwer. Der Klub hat es jedoch geschafft. Ich bin total überzeugt von den neuen Spielern, die extrem hungrig sind. Wir haben jetzt einen breiteren Kader. Man muss den neuen Spielern noch etwas Zeit geben. Ich glaube fest daran, dass etwas Gutes entstehen kann.
„Ich bin nicht sauer auf Waldi“
SPORT1: Insbesondere der Wechsel von Waldemar Anton zum BVB sorgte für viel Wirbel. Wie denken Sie darüber?
Karazor: Natürlich ist das ein herber Verlust für uns. Waldi war ein absoluter Leader beim VfB. Und er ist als verdienter Spieler gegangen. Waldi hat alles für dieses Trikot gegeben und war immer zu 100 Prozent für jeden da. Ich bin nicht sauer auf Waldi. Ich habe nach wie vor ein gutes Verhältnis zu Waldi.
SPORT1: Im Winter hatte Anton dem VfB noch die Treue geschworen und den Vertrag verlängert. Hinterlässt das keinen bitteren Beigeschmack?
Karazor: Natürlich verstehe ich, dass manche Fans enttäuscht waren. Aber ich versuche, neutral zu bleiben. Ich kenne Waldi genau und weiß, dass er sich immer gut verhalten hat. Er hat sich nie quer gestellt. Insgesamt war das sicherlich auch für Waldi keine einfache Situation.
SPORT1: Der Wechsel brachte die VfB-Fans auf die Barrikaden. In einer Woche kommt es zum Wiedersehen ....
Karazor: Wir haben richtig Bock auf das Spiel und wissen, dass wir auf zwei frühere VfB-Spieler treffen, wenn Serhou spielen kann. Unsere Fans werden sicher wieder für eine überragende Stimmung im Stadion sorgen.
SPORT1: Fühlen Sie mit Anton, sollte der Empfang nicht so herzlich ausfallen?
Karazor: Das wird sicher keine einfache Situation für ihn, aber Waldi ist mental sehr stark und kann damit umgehen.
„Das Kapitänsamt bedeutet mir viel“
SPORT1: Sie sind der neue Kapitän des VfB und damit Antons Nachfolger. Wie war der Moment, als Sie Trainer Sebastian Hoeneß darüber informierte?
Karazor: Ich hatte schon in den Testspielen die Binde getragen. Aber ich hatte natürlich nie die Gewissheit, dass ich dauerhaft der neue Kapitän bin. Ich habe viele Spieler bei uns in dieser Leader-Rolle gesehen, weil wir einfach eine geile Mannschaft sind. Doch dann wurde ich an einem Tag zum Trainer ins Büro gerufen und er lächelte schon. Ich habe nur gesagt: „Wow! Krass!“ Mir haben dann erstmal die Worte gefehlt. Es war ein sehr schöner Moment. Das mit dem Kapitänsamt bedeutet mir viel. Nicht jeder kennt meine Geschichte beim VfB, es gab einige Höhen und Tiefen. Jetzt bin ich nach fünf Jahren Kapitän einer großartigen Mannschaft, sitze hier und schaue auf eine wunderbare Stadt.
SPORT1: Welche Höhen und Tiefen meinen Sie?
Karazor: Ich habe sehr viel beim VfB erlebt, der Verein bedeutet mir sehr viel. Jetzt Kapitän zu sein, ist echt eine große Sache. Das sage ich nicht nur so dahin. Die Fast-Abstiege und der Aufstieg. Dann habe ich unfassbare Persönlichkeiten kennenlernen dürfen, wie Mario Gómez, Holger Badstuber oder Nico González, bis hin zu den Jungs, mit denen ich jetzt zusammenspiele. Aber auch die Leute um die Mannschaft herum. Alle sind mir sehr ans Herz gewachsen. Und natürlich die Fans. Ich musste in meiner Karriere schon einiges durchmachen und will viel zurückgeben, das hat man auch an meiner Vertragsverlängerung gesehen.
SPORT1: Was mussten Sie durchmachen?
Karazor: Ich bin damals nach Kiel gewechselt, habe mich prompt verletzt und war drei, vier Monate raus. Und das in einer neuen Mannschaft; ich kannte keinen. Ich habe in dieser Zeit sehr viel gelernt. Es war wichtig für meinen Kopf. Ich war ganz unten. Aber ich habe nie aufgegeben, habe immer mehr von den Niederlagen als von Siegen gelernt.
„Ich muss das Wappen nicht küssen“
SPORT1: Hatten Sie im Sommer auch Gedanken an einen Vereinswechsel?
Karazor: Es gab natürlich Anfragen, aber für mich war völlig klar, dass ich bleibe. Der VfB war Option eins, zwei und drei. Heutzutage wird im Fußball so viel Geld geboten und natürlich habe ich mir die eine oder andere Sache angehört. Da war auch Saudi-Arabien dabei. Aber das hat für mich keine Rolle gespielt, auch wenn es mich freut, dass andere Vereine meine Leistungen anerkennen. Das ist natürlich gut für das Selbstvertrauen. Doch für mich zählt nur eins: Ich möchte dem VfB etwas zurückgeben.
SPORT1: Sie haben Ihren Vertrag vorzeitig bis 2028 verlängert.
Karazor: Ich habe zu meinem Berater frühzeitig gesagt: „Wenn der VfB Bock hat, habe ich auch Bock.“ Und trotzdem gibt es immer mal interessante Dinge, das ist doch ganz normal. England und Italien reizen mich schon. Aber nicht jetzt. Für mich ist der VfB gerade wirklich das Beste, was es gibt.
SPORT1: Oft wird das Wappen geküsst, um die Treue zum Verein zu unterstreichen. Kurz darauf wechselt der Spieler dann trotzdem. Wie stehen Sie zu dem Thema?
Karazor: Das ist schwierig. Ich muss das Wappen nicht küssen. Ich kann mit meiner Leistung und meiner Haltung zeigen, dass ich Stuttgarter bin. Ich muss auch nicht jeden Tag VfB-Klamotten tragen, nur um meine Liebe zum Klub zu dokumentieren. Im Fußball geht es leider oft viel zu schnell. Es gibt viele Meinungen und manchmal belastet dich das als Spieler. Ich weiß, dass ich diese Saison beim VfB genießen will. Wir reden immer von Vereinswechseln, aber was ist, wenn der VfB mich nicht mehr will oder wenn ich mich verletze?
„Mir tat Joshua Kimmich leid“
SPORT1: Wie meinen Sie das?
Karazor: Es liegt ja nicht immer nur an den Spielern, wenn es zur Trennung kommt, sondern manchmal auch an Vereinen, die ihre Spieler loswerden möchten. Und es liegt leider oft auch an den Beratern und am Geld. Vor zehn Jahren war das noch nicht so krass. Manchmal würde ich mir auch wünschen, dass die Spieler mehr vor öffentlichen Anfeindungen geschützt werden. Mir tat zum Beispiel Joshua Kimmich leid.
SPORT1: Warum?
Karazor: Ein Spieler wie Joshua Kimmich würde in Italien in den Himmel gelobt werden. Völlig zu Recht. Oder wenn ich sehe, was alles über Manuel Neuer geredet wurde, als er zwei, drei Fehler gemacht hat. Das hätte keiner mit Buffon (Italiens Torwartlegende Gianluigi Buffon, d. Red.) gemacht. Manuel Neuer hat den Fußball verändert. Was Joshua Kimmich oder Manuel Neuer an Kritik aushalten mussten, war nicht okay.
„Habe das Gefühl, dass Guirassy immer noch unterschätzt wird“
SPORT1: Glauben Sie, dass Guirassy beim BVB befreit spielen und für Furore sorgen wird?
Karazor: Ja. Serhou wird eine sehr gute Saison spielen, weil er ein unglaublich guter Spieler ist. Er hat beim VfB unglaublich abgeliefert. Und ich habe das Gefühl, dass er immer noch unterschätzt wird. Nicht alle Leute wissen, wie gut Serhou ist. Aber er wird alle überzeugen.
SPORT1: Wie blicken Sie auf die neue Champions-League-Saison?
Karazor: Ich habe kürzlich zu Torwart Fabian Bredlow gesagt: „In weniger als einer Woche hören wir das Lied.“ Und das Krasse ist, dass er sofort wusste, welches Lied ich meine. (lacht) Real Madrid hat ja auch eine eigene Hymne, auch darauf freue ich mich sehr. Real war unser Wunschgegner. Als wir die Auslosung zusammen gesehen haben, hat sich jeder gefreut, dass das unser erster Gegner ist. Unsere Familien werden auch dabei sein.
SPORT1: Schlafen Sie schlechter vor solch einem Spiel?
Karazor: Ich glaube nicht, dass ich nervös sein werde. Ich schlafe grundsätzlich gut vor Spielen. Ich sehe alles etwas lockerer. Wir sollten alle mit einem gewissen Spaß da rangehen. Ich freue mich brutal auf das Spiel im Bernabéu.