Das vorläufige Ziel des Karriereweges von Anrie Chase gleicht einem kleinen Wunder. Beim 5:0-Sieg im DFB-Pokal gegen Preußen Münster feierte der 20-Jährige sein Startelf-Debüt für den VfB Stuttgart – und spielte über die vollen 90 Minuten beinahe fehlerfrei.
Hoeneß' außergewöhnliche Rettung
Dabei hatte der Innenverteidiger doch erst drei Tage zuvor sein Bundesliga-Debüt mit einem 25-minütigen Kurzeinsatz beim 1:3 gegen den SC Freiburg gefeiert. Und erst 16 Tage zuvor sein Drittliga-Debüt für die Zweitauswahl der Schwaben, die er als Stammspieler in der Regionalliga zum Aufstieg führte.
Doch wie genau kommt der markante Wuschelkopf, über den Trainer Sebastian Hoeneß sagte, er habe einen „spannenden Werdegang“, so urplötzlich zu diesem kometenhaften Aufstieg?
Bundesliga: VfB Stuttgart mit großen Defensivsorgen
Die Wahrheit ist zweigeteilt. Zugegeben, der VfB hat große Personalprobleme und Chase ist sicherlich nicht die erste oder zweite Wahl. Mit Jeff Chabot, Dan-Axel Zagadou, Anthony Rouault und Neuzugang Ameen Al-Dakhil fehlen sicherlich noch vier Innenverteidiger, die den Vorzug vor Chase bekämen. Im Normalfall.
Aber so normal ist das Fußballgeschäft nun einmal nicht. Denn wer hätte im März 2004, als Chase in Yokosuka in der Präfektur Kanagawa auf die Welt kam, gedacht, dass er einmal in Deutschland Fußball spielen würde?
Man hätte es wohl auch noch nicht vermutet, als der Sohn einer Japanerin und eines US-amerikanischen Soldaten mit jamaikanischer Abstammung mit drei Jahren nach Amerika auswanderte und in seinem Kindes- und jüngerem Jugendalter neben Fußball auch noch Basketball spielen sollte.
„Er hat mit Basketball angefangen und ist erst recht spät umgeswitcht auf Fußball. Er ist ein Bewegungstalent und hat sich jetzt hochgearbeitet“, beschrieb Hoeneß jüngst den Weg seines Schützlings.
Abzusehen schien der Weg erst, als der Weg die Familie Chase zurück nach Japan führte, da war der kleine Anrie 12. „Dann dachte ich: ‚Fußball macht Spaß', also kam ich zurück nach Japan und fing ernsthaft an“, sagte Chase einst der größten japanischen Sportzeitung Nikkan Sports: „In Japan war jeder gut auf den Beinen, und ich war der Schlechteste in der Junior Highschool, sodass ich nicht mit ihnen mithalten konnte.“
Hoeneß lobt VfB-Talent: „Da hat er seine Stärken“
Grund genug, hart an seinen Fähigkeiten zu feilen. Das fällt Nationalspieler Maximilian Mittelstädt noch heute auf: „Anrie ist ein Spieler, der sehr viel arbeitet. Er ist sehr professionell. Vor und nach dem Training sieht man ihn eigentlich nur im Kraftraum. Er bringt sehr viel Mentalität mit.“
Der Japaner, der übrigens auch im Besitz einer US-Staatsbürgerschaft ist, sieht das selbst übrigens genauso. „Ich gehe nicht viel aus, wenn ich nicht trainiere oder Extraschichten schiebe, konzentriere ich mich komplett auf die Regeneration“, erzählte Chase der Stuttgarter Zeitung. Training, Schlaf, Netflix und die täglichen Videocalls mit seinen Eltern in Japan würden seinen Alltag als Fußballprofi füllen.
Denn von dort kam Chase nach Deutschland. An der Shoshi Highschool, die Chase seit seinem 15. Lebensjahr besuchte, waren die großen Sprünge und der weitere Karriereverlauf schon klarer ersichtlich. Der kantige 1,88-Meter-Verteidiger wurde in Japans U20- und U23-Auswahl berufen – und entwickelte seine Qualitäten, die auch Bundesliga-Trainer heute wertschätzen.
Hoeneß lobte: „Wir werden seine Kopfballstärke brauchen, da hat er seine Stärken und Qualitäten. Spielerisch war er gerade am Anfang mit dem Spieltempo beschäftigt, mittlerweile ist er aber auch fußballerisch auf einem ordentlichen Level. Seine Kernkompetenzen sind in der Defensive, er ist kopfball- und zweikampfstark.“
Chase bald wieder in der VfB-Startelf?
Und so scheint beim VfB Stuttgart der globale und sicherlich so nicht vorherzusehende Karriereweg des Anrie Chase am vorläufigen Ziel angekommen zu sein.
Nicht nur traf Chase bereits auf der Asienreise in der Vorbereitung mit Yuto Anzai auf einen alten Kollegen aus der Highschool – sondern es wartet bereits die nächste Aufgabe: Bundesliga-Startelf! „Die Chancen stehen sehr gut. Wir haben aktuell einen gesunden Innenverteidiger, deshalb kann es sich jeder ausrechnen, wie die Chancen stehen“, erklärte Hoeneß bereits nach dem Pokal-Auftritt gegen Münster.
Das Spiel am Samstag (ab 15.30 Uhr im SPORT1-Liveticker) könnte also zu einer weiteren Premiere mutieren. Vier Tage nach dem Startelf-Debüt für den VfB. Und nur 19 Tage nach seinem Drittliga-Debüt.