Xabi Alonso sammelte in seiner Zeit als aktiver Spieler beim FC Bayern, Real Madrid und dem FC Liverpool bereits 18 Titel. Doch Nummer 19, da musste der gefeierte Spanier nicht lange überlegen, hat einen ganz besonderen Stellenwert. Nicht nur, weil es sich selten ein Team so sehr verdient hat wie Leverkusen die Deutsche Meisterschaft. Sondern weil es „der Titel erste als Coach“ war. Dafür gebe es daheim sogar „einen neuen Raum“, verriet Bayers sichtlich gerührter Trainer am Samstag nach der Übergabe der Meisterschale.
Mister Invincible
Um 17.37 Uhr war es so weit, das Objekt der Begierde nach jahrzehntelangem Warten in Leverkusen angekommen. DFL-Geschäftsführer Marc Lenz übergab es zuerst in die Hände von Kapitän Lukas Hradecky. 34 Spiele, 28 Siege, keine einzige Niederlage, satte 17 Punkte Vorsprung auf den ersten Verfolger aus Stuttgart, dazu ein Torverhältnis von +65. Alles Zahlen, so beeindruckend wie unmissverständlich - und von vielen in erster Linie auf Alonsos Arbeit zurückzuführen sind. Die Stadt und der Verein liegen ihm zu Füßen, so stand der eher zurückhaltende Übungsleiter bei der Krönung einmal mehr im Mittelpunkt.
Schon beim Gang auf das Podium bekam Alonso den größten Sonder-Jubel, ehe er sich wie Hradecky am Zaun der Nordkurve hochziehen ließ und ausgelassen mit den Fans feierte. Gleichzeitig hielt Jeremie Frimpong ein Plakat der Fans in die Höhe, welches die Aufschrift „King Xabi“ hatte und dessen Gesicht samt einer Krone auf dem Kopf zeigte. Erst, als sich die Szenerie wieder etwas beruhigte, schloss der ehemalige Welt- und Europameister dann seine Frau und drei Kinder minutenlang in die Arme und reckte immer wieder die Faust in Richtung der Anhänger.
Alonso verändert Vereins-DNA von Bayer
An jedem Tag, der nicht weniger als das offizielle Ende von „Vizekusen“ war. Fünfmal landete Bayer seit 1997 auf Rang zwei, hinzu kamen weitere vier Final-Niederlagen im DFB-Pokal, eine in der Champions League. Weder Christoph Daum noch Klaus Toppmöller oder fast ein Jahrzehnt später Jupp Heynckes schafften es, die Rheinländer zum großen Coup zu führen und das zweifelhafte Image des ewigen Zweiten abzulegen. Es schien, als wären erste Plätze mit der Vereins-DNA schlicht und einfach nicht vereinbar. Bis Alonso kam.
Wohlgemerkt ohne große Vorerfahrungen auf der Trainerbank. Lediglich in der Jugend von Real Madrid und bei Real Sociedad B hatte Alonso gecoacht, bevor er im Oktober 2022 in der Bundesliga aufschlug. Anfängliche Zweifel? Die gab es definitiv. Zumal er in Leverkusen eine Gruppe vorfand, die zweifellos talentiert, damals aber eben auch komplett verunsichert und auf Platz 17 liegend historisch schlecht war. Umso erstaunlicher, dass der Spanier keine zwei Jahre brauchte, um daraus das beste Bayer-Team jemals zu bilden - vielleicht sogar das beste der Bundesligageschichte.
Am Punkterekord des FC Bayern, die in der Saison 2012/13 insgesamt 91 Zähler holten, ist die Werkself zwar knapp gescheitert. Eine komplette Saison ungeschlagen zu bleiben, das hat noch nie eine Mannschaft geschafft - zumindest nicht in Deutschland. Einst gelang beispielsweise dem FC Arsenal eine solche Serie in der Premier League. Die Gunners um Jens Lehmann, Patrick Vieira, Freddie Ljungberg und Thierry Henry blieben in der Spielzeit 2003/04 gänzlich ohne Niederlage, die Geburtsstunde der legendären „Invincibles“.
Leverkusen wie einst Arsenal
In weiser Voraussicht sagte Arsenals damaliger Mannschaftskapitän Vieira: „An diese Mannschaft wird man sich immer erinnern.“ Widersprechen würde ihm auch 20 Jahre später niemand. Die Art und Weise, wie der französische Erfolgscoach Arsene Wenger seine physisch und technisch außergewöhnliche Mannschaft Fußball spielen ließ, der perfekt auf seinen breiten Kader zugeschnitten war, ist bis heute unvergessen - und erinnert in diesen Wochen zwangsläufig an Alonsos Leverkusener, die ihnen in auffällig vielen Aspekten ähnlich sind.
Beides seinerzeit intelligente, flexible Teams, welche überall auf dem Spielfeld komplette und eigenständige Akteure haben. Den Grundstein dafür legte Leverkusen wie Arsenal bereits im Sommer, als sämtliche Wunschtransfers verwirklicht wurden: Granit Xhaka, Alejandro Grimaldo, Jonas Hofmann, Victor Boniface, Nathan Tella, Josip Stanisic. Mithilfe der Strahlkraft seines Trainers war es gelungen, die 55 Millionen Euro, die der Klub aus dem Verkauf von Moussa Diaby zu Aston Villa einnahm, in ein halbes Dutzend neue Spieler zu investieren.
Jedoch schaffte es Bayers Übungsleiter nicht nur, seine vielversprechenden Neuzugänge sofort einzufügen. Er verbesserte auch das Leistungsniveau jedes Anderen peu à peu, allesamt kamen sie im Alonso-Fußball bestens zur Geltung - egal ob im Kollektiv oder individuell. Spätestens nach der Winterpause zeigte sich eindrucksvoll: Der Deutsche Meister besitzt über 20 Spieler auf höchstem Niveau, welche der Spanier praktisch jedes Match nach Lust und Laune rotieren kann.
Alonso setzt neue Maßstäbe
Was dabei auffiel: Niemand ließ über die gesamte Saison den Hauch eines Zweifels daran, wie groß Alonsos Bedeutung war. Völlig egal, ob Schlüsselspieler oder Leute aus der zweiten Reihe, alle sprachen sie durchweg respektvoll über ihren Trainer, nie gab es Stunk innerhalb des Teams. Keinen, der auch nur ein einziges Mal Unruhe reinbrachte. Gewann der frühere Weltklasse-Stratege schon als aktiver Profi alle denkbaren Titel, war er der perfekte Mann, um dieses Gen für den maximalen Erfolg weiterzuvermitteln, um in Sachen Willen, Können sowie Motivation ganz neue Maßstäbe zu setzen.
Man braucht bloß eines seiner Trainings zu verfolgen, um dies festzustellen. Dass Alonso nach wie vor voll im Saft steht und nichts seiner Fähigkeiten verlernt hat, hilft ihm dabei sehr. „Stellen Sie sich vor, Sie trainieren und Ihr Trainer macht es besser als Sie. Dann wollen Sie Ihr Spiel verbessern. Dass er am Training beteiligt ist, gibt uns Auftrieb“, sagte Torjäger Victor Boniface kürzlich in einem Interview mit SID sowie AFP und verdeutliche, weshalb der größte Star in Leverkusen immer noch an der Seitenlinie steht.
„Ungeschlagen zu bleiben, ist besser“
Und der war nur noch stolz. „Das ist eine außergewöhnliche Saison. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa. Es gab die Invincibles (FC Arsenal, Anm. d. Red.), es gab Juventus Turin - und jetzt sind wir auch Teil der Fußball-Geschichte in Europa. Es gibt zu viele Emotionen, das ist nicht einfach zu erklären“, betonte Alonso, der sich übrigens nicht darüber ärgerte, den Punkterekord der Bayern knapp verpasst zu haben. „Nein, nein. Wir haben genug“, meinte er und fügte mit einem kleinen Seitenhieb Richtung München an: „Ungeschlagen zu bleiben ist besser.“
Sage und schreibe 51 Pflichtspiele in Serie haben die Leverkusener nicht verloren - und es geht noch mehr. Der ehemals als „Vizekusen“ verspottete Klub aus dem Rheinland will zu „Triplekusen“ werden. In den Finalspielen der Europa League am Mittwoch in Dublin gegen Atalanta Bergamo und im DFB-Pokal am kommenden Samstag gegen Zweitligist 1. FC Kaiserslautern kann Alonsos Team eine unglaubliche Saison mit zwei weiteren Titeln krönen.