Atakan Karazor lebt mit dem VfB Stuttgart einen großen Traum. Während das Team von Trainer Sebastian Hoeneß in der vergangenen Saison noch durch die Relegation den Abstieg in die Zweite Liga verhindern konnte, stehen die Schwaben in der aktuellen Runde nach 28 Spieltagen auf Platz drei, was die direkte Qualifikation für die Champions League bedeuten würde.
„Dann kam Angelo - überragender Junge“
Einer der Leistungsträger ist Karazor. Der 27-Jährige war zuletzt zweimal Kapitän und ist der dienstälteste Spieler. Vor dem Heimspiel gegen Eintracht Frankfurt (Sa., 18.30 Uhr im LIVETICKER) spricht der gebürtige Essener im exklusiven SPORT1-Interview über den VfB, seinen Coach und einen großen Traum.
SPORT1: Herr Karazor, am Samstagabend werden Sie Ihr 100. Bundesligaspiel absolvieren. Wie fühlen Sie sich mit diesem Jubiläum?
Atakan „Ata“ Karazor: Ganz ehrlich? Ich wusste das gar nicht. Das freut mich sehr. Ich habe davon geträumt, zu Beginn meiner Karriere, aber es war noch so weit weg. Und jetzt spiele ich am Samstag mein 100. Spiel. Ich bin extrem stolz. Es ist unglaublich.
Karazor: „Wir sollten nicht aufhören zu träumen.“
SPORT1: Ist das ein keines Märchen, das Sie gerade in Stuttgart erleben?
Karazor: Ich hätte nicht gedacht, dass es in dieser Saison so erfolgreich werden würde. Die vergangenen beiden Spielzeiten waren nicht gut; wir konnten in der alten Saison nur durch die Relegation in der Bundesliga bleiben. Umso schöner ist es jetzt, dort zu stehen, wo wir gerade sind. Wir sollten nicht aufhören zu träumen. Beim VfB leben wir gerade einen großen Traum.
SPORT1: Wie blicken Sie zurück auf Ihre bisherige Karriere?
Karazor: Ich hatte bisher keine Vorzeigekarriere, sondern sie verlief eher durchwachsen. In meiner Jugend spielte ich beim VfL Bochum. Im ersten Jahr in der U19 hatte ich einen Trainer, der gar nicht auf mich setzte. Im zweiten Jahr unter Darius Wosz lief es dann besser für mich, und ich wurde Stammspieler. Endlich konnte ich zeigen, was ich kann. Allerdings habe ich nicht klassisch in allen Altersstufen ein Nachwuchsleistungszentrum durchlaufen.
SPORT1: Von Bochum ging es für Sie weiter zur zweiten Mannschaft von Borussia Dortmund.
Karazor: Ganz genau. Anfangs fiel es mir schwer, weil es nun der Männerfußball war. Da konnte ich nicht mehr so viel Zeit mit den U19-Jungs verbringen. Beim BVB hatte ich aber das Glück, mit David Wagner (aktuell Trainer beim englischen Zweitligisten Norwich City, d. Red.) einen sehr guten Trainer zu haben, der mir beigebracht hat, besser mit Hindernissen umzugehen. Später wurde Daniel Farke mein Trainer. Ich konnte mich als Stammspieler etablieren, und es lief viel besser. Ich hatte wirklich Glück mit meinen Trainern.
SPORT1: Dann kam der Wechsel nach Kiel.
Karazor: Damals, im Alter von 20 Jahren, machte ich den Fehler zu sagen: „Ich habe im Fußball schon alles erlebt.“ Bei Holstein Kiel verletzte ich mich gleich in der ersten Woche und war daraufhin drei bis vier Monate raus. Danach fand ich keine richtige Bindung zur Mannschaft, ich spielte kaum. Das hat etwas mit mir gemacht. Entweder gibt man auf oder man macht einfach weiter. Ich habe an mich geglaubt. Unter Tim Walter (Ex-Trainer des Hamburger SV, aktuell ohne Job, d. Red.) hatte ich dann Glück.
Hoeneß Vertragsverlängerung: „Ein ganz wichtiges Signal an uns“
SPORT1: Mit Sebastian Hoeneß haben Sie jetzt einen der interessantesten Trainer im deutschen Fußball. Was ist das Besondere an ihm?
Karazor: Ich muss etwas ausholen. Beim VfB hatte ich vor Herrn Hoeneß mit Pellegrino Matarazzo und Bruno Labbadia auch zwei unglaublich gute Trainer. Die große Stärke von Sebastian Hoeneß liegt jedoch darin, wie er mit der Mannschaft umgeht. Er kann sich perfekt in einen Spieler hineinversetzen, und das ist der Trick eines Trainers. Als Spieler fühlt man sich bei ihm bestens aufgehoben. In der Vergangenheit lief mit dem einen oder anderen Spieler nicht immer alles reibungslos in der Kabine ab. Unter ihm herrscht eine nahezu perfekte Harmonie. Unser Trainer gibt der Mannschaft menschlich sehr viel. Er schafft es, die letzten Prozente aus uns heraus zu kitzeln. Er versteht uns und möchte uns auch verstehen.
SPORT1: Hoeneß hat zuletzt seinen Vertrag verlängert. Das war ein guter Move, oder?
Karazor: Absolut. Mit diesem Schritt hat er einfach das verkörpert, was er für uns in der Kabine ist: jemand, der bodenständig bleibt und dies auch nach außen und in die Mannschaft trägt. Der Trainer bemüht sich immer, für uns Spieler da zu sein. Dies hat er mit seiner Vertragsverlängerung gezeigt. Er hat uns damit verdeutlicht, dass er noch einiges mit dem VfB erreichen möchte. Natürlich haben wir uns darüber sehr gefreut. Nun bin ich auch zuversichtlicher, dass der eine oder andere Spieler auch in Stuttgart bleiben wird.
SPORT1: Glauben Sie, dass so wichtige Spieler wie Chris Führich gehalten werden können?
Karazor: Ich bin da grundsätzlich immer Optimist. Das war ein ganz wichtiges Signal vom Trainer an uns. Sein Verbleib ist ein entscheidender Faktor für uns alle, auch für mich. Sebastian Hoeneß bleibt, und viele Spieler hoffentlich auch. Unser Coach ist wie ein weiterer Mannschaftskollege für uns. Er bleibt bodenständig und zielorientiert. Wir feiern unseren Trainer jeden Tag aufs Neue.
„Champions League mit dem VfB - das wäre nur geil.“
SPORT1: Sie sind mit Angelo Stiller auf der Sechser-Position ein wichtiges Gespann. Wieso klappt das so gut mit Ihnen beiden?
Karazor: Auch hier hatte der Trainer seine Hände im Spiel. Er kennt Angelo schon lange. Ich erinnere mich an den vergangenen Sommer, als Wataru Endo den Verein verlassen hat. Dann kam Angelo in die Kabine, ein überragender Junge. Ich verstehe mich auch privat super mit ihm. Er trägt wie ich das Herz auf der Zunge. Solche Menschen mag ich. Mit ihm habe ich einen Ballmagneten neben mir.
SPORT1: Wie meinen Sie das?
Karazor: Oft denke ich: ‚Wenn er keinen Ball verliert, dann will ich auch keinen Ball verlieren.‘ Der Junge macht mich einfach besser, und Angelo denkt für mich mit. Ich versuche das natürlich auch. Es harmoniert zwischen uns einfach perfekt. Wir begegnen uns immer auf Augenhöhe. Und ich gönne ihm jeden Assist und jedes Tor. Und umgekehrt auch.
SPORT1: Der VfB in der Champions League - wie klingt das?
Karazor: Das klingt wie ein Märchen. Seit vier Jahren spiele ich beim VfB und bin damit einer der dienstältesten Spieler. Ich habe viel Kritik über unsere Mannschaft gehört. Das ist für mich jetzt auch eine Genugtuung. An diesem Punkt zu stehen, wo wir gerade sind - das motiviert mich enorm. Ich möchte jedem zeigen, was in uns steckt. Ich hoffe sehr, dass wir den dritten Platz halten können.
SPORT1: Wir müssen natürlich auch eine Sache ansprechen. Sie waren wegen des Verdachts der Vergewaltigung auf Ibiza im Gefängnis. Wie schwer war diese Zeit für Sie?
Karazor: Man kann sich vorstellen, dass ich eine schwierige Zeit hatte. Ich bitte aber um Verständnis dafür, dass ich mich dazu im Moment nicht äußern kann, weil das Verfahren noch nicht abgeschlossen ist. Die Leute, die sich für mich darum kümmern, sowie der VfB stehen voll hinter mir. Und hoffentlich wird es bald gute Nachrichten geben.
Nationalmannschaft? „Ich habe keine Angst vor Enttäuschungen“
SPORT1: Sie waren zuletzt beim VfB zweimal Kapitän. Was machte das mit Ihnen?
Karazor: Das Gefühl, meinen VfB als Kapitän auf den Platz zu führen, war unbeschreiblich. Es war eine große Ehre. Das erste Mal im Spiel bei Union Berlin, und zuletzt beim BVB, wo ich früher in der U23 spielte. Ich erhielt erst am Tag vor dem Spiel gegen Union die Nachricht vom Trainer. Ich war auch ein wenig nervös. Ich habe viel im Fußball erlebt, aber dieses Gefühl war wirklich besonders. Gott sei Dank ist alles gut gegangen, und ich konnte die Nervosität mit dem Anpfiff ablegen. Wir sind eine verrückte Mannschaft, und es gab blöde Sprüche, weil ich eine Torvorlage geben konnte. Von wegen „Erst als Kapitän gelingt dir das.“ In Dortmund Kapitän des VfB zu sein, das war ein weiterer Gänsehaut-Moment für mich.
SPORT1: Thema Nationalmannschaft. Angelo Stiller steht schon auf dem Zettel von Bundestrainer Julian Nagelsmann. Wäre es ein Traum, dass sie beide dabei sind?
Karazor: Na klar, ich gönne es Angelo von ganzem Herzen. Auch ich spiele sicher eine gute Runde. Ich habe eine gewisse Konstanz gefunden. Das Thema Nationalmannschaft steht schon länger im Raum, aber ich will nicht zu viel daran denken. In meiner Brust schlagen ja zwei Herzen, denn ich kann mir auch sehr gut vorstellen, für die türkische Nationalmannschaft aufzulaufen. Ich habe keine Angst vor Enttäuschungen, aber wenn ich jetzt nur daran denke, kann es sein, dass ich nicht mehr mit dem Kopf beim VfB bin. Aber klar, ein Anruf des deutschen oder türkischen Nationaltrainers würde mich stolz machen. Ich würde mich über eine Nominierung freuen. Vielleicht wird irgendwann der Traum wahr.
Warum Karazor glaubt, dass ein Großteil des Teams zusammenbleibt
SPORT1: Nochmal nachgefragt. Sie glauben, dass ein Großteil des Teams zusammenbleibt?
Karazor: Ja, ich spüre das, und ein Großteil der Mannschaft auch. Die Jungs haben einfach Bock auf den VfB.
SPORT1: Gibt es Gedanken, dass der VfB das gleiche Schicksal wie Union Berlin erleiden könnte?
Karazor: Nein, daran denken wir nicht. Wirklich nicht. In unserer Kabine gibt es viel positive Energie. Es gibt keine schlechten Gedanken bei uns. Es herrscht ein gutes Verhältnis untereinander. Das führt zu guter Laune. Das trägt uns durch die Saison.
Karazor: Wir wollen unseren aktuellen Platz verteidigen. Wir brauchen noch einige Punkte und wissen, was wir zu tun haben. Champions League mit dem VfB - das wäre nur geil.