Es dürfte kaum einen Fußball-Fan der neunziger Jahre geben, der Lars Rickens berühmteste Sätze nicht noch im Ohr hat. Mindestens zum Teil.
Rickens vier legendärste Sätze
„Ich sehe VIP-Logen, wo früher Stehplätze waren. Ich sehe Spieler, die öfter mit der Presse reden, als mit ihrem Coach. Ich sehe Vereine, die teure Profis kaufen, statt den Nachwuchs zu fördern. Ich sehe Typen in Nadelstreifen und Geschäftemacherei ohne Ende.“
Die markanten Worte des damaligen BVB-Jungstars hallten 1997 durch die Lautsprecher von Millionen Fernsehgeräten, zigmal täglich. Er nahm sie auf für einen in Fußball-Deutschland damals vieldiskutierten Werbespot von Nike.
Ausgerechnet als Imagekampagne für den US-Milliardenunternehmens Nike - von Geschäftssinn auch nicht frei - sprach der damals 20-Jährige wie ein Fan, der mit den Auswüchsen des modernen Fußballs nicht klarkam. Einem Teil der Anhänger sprach und spricht er damit aus der Seele, andere kritisierten seine Aussagen als verlogen aus dem Munde eines selbst von der Branche profitierenden Jungmillionärs.
Schlusspointe des polarisierenden Spots: Mit den Worten „Und dann sehe ich, was mir wirklich wichtig ist“ wird überblendet in einen Fallrückzieher Rickens und das Nike-Logo. Botschaft: Aufs Wesentliche konzentriert ist Fußball trotz allem das Beste.
27 Jahre später ist Ricken nun designierter Geschäftsführer Sport bei Borussia Dortmund, verantwortlich für VIP-Logen und Stehplätze, Nachwuchsförderung und teure Transfers, modernes Business und die Pflege von Tradition und Mythos.
Eines Mythos, den der junge Ricken einst maßgeblich mitgestaltet hat.
Lars Ricken galt früh als Zukunft des BVB
Zwischen 1990 und 2009 hatte Ricken eine Spielerkarriere hingelegt, die schon damals Seltenheitswert hatte: Der BVB war der einzige Profiklub des gebürtigen Dortmunders, er ging mit ihm durch alle Höhen und Tiefen – und stand dabei selbst früh im Mittelpunkt.
Im Frühjahr 1994 debütierte er unter Coach Ottmar Hitzfeld in der Bundesliga, drei Tage später schoss er mit 17 Jahren als bis dato jüngster Spieler der Liga-Geschichte ein Tor. Der Rekord hatte Bestand, bis der spätere BVB-Kollege Nuri Sahin ihn 11 Jahre danach brach. Der Gymnasiast Ricken, 1992 mit der deutschen U16 Europameister, hatte entsprechend schnell den Ruf als Teenie-Sensation und Zukunft des BVB weg.
Im Windschatten der damaligen Stars der Gegenwart - Andreas Möller, Matthias Sammer, Stefan Reuter, Karl-Heinz Riedle - feierte Ricken schnell seine ersten großen Erfolge, war Teil der Meistermannschaften von 1995 und 1996.
Ricken war in dieser Ära kein unumstrittener Stammspieler, aber doch mehr als nur ein von Teenies umschwärmter und mit diversen Bravo-Ottos prämierter Nebendarsteller. Er schoss diverse wichtige Tore, vor allem in den Europapokalwettbewerben. Sein allerwichtigstes war dann auch gleich mal ein Jahrhundert-Tor.
Tor des BVB-Jahrhunderts in München 1997
Es war der 28. Mai 1997, das Finale der Champions League im Münchener Olympiastadion: Es stand durch zwei Treffer von Riedle bereits 2:1 für den BVB gegen Juventus Turin, als Hitzfeld Ricken in der 70. Minute für Sturmveteran Stephane „Chappi“ Chapuisat einwechselte. Die darauffolgenden 10 Sekunden sind Geschichte.
Mit dem ersten Ballkontakt holte Ricken aus 25 Metern zur Bogenlampe gegen Keeper Angelo Peruzzi aus – nach eigenen Angaben hatte er sich schon von der Ersatzbank aus mehrfach darüber „aufgeregt“, dass Peruzzi ständig zu weit vor seinem Tor gestanden war und noch keiner auf die Idee gekommen war, es auszunutzen.
Zum Rest des Geschehens muss an der Stelle nicht mehr wiedergegeben werden als der originale Live-Kommentar von RTL-Reporter Marcel Reif: „Möller. Ricken. Lupfen jetzt. JAAAAAA!“
Ricken feierte mit dem BVB weitere Erfolge wie die Meisterschaft 2002 und den Einzug ins UEFA-Pokalfinale 2002, auch am größten Tiefpunkt mit der Beinahe-Insolvenz 2005 litt er als Aktiver mit.
Wechselhafte Karriere verhinderte DFB-Erfolge
So sehr sich Ricken aber unsterblich machte, indem er den größten Erfolg der Klubgeschichte sicherstellte: Über einen längeren Zeitraum hinweg konnte er den BVB als Spieler nicht so sehr prägen wie in seinen großen Momentaufnahmen.
Auch in der Nationalmannschaft setzte sich Ricken wegen zu wechselhafter Leistungen nicht konstant durch, zur WM 2002 nahm ihn der damalige Teamchef Rudi Völler zwar mit, setzte ihn aber nie ein. Danach spielte Ricken nie wieder im DFB-Dress, Jürgen Klinsmann und Jogi Löw berücksichtigten ihn nicht mehr. Die letzten leisen Hoffnungen auf eine Teilnahme an der Sommermärchen-WM 2006 - bei der Ricken im besten Fußballeralter war - begrub ein Kreuzbandriss im November 2005.
Die Verletzungsprobleme und ihre Folgen beendeten Rickens Karriere recht früh, der damalige BVB-Coach Thomas Doll sortierte ihn 2007 aus, für einen Neustart bei einem anderen Klub sah Ricken seinen Körper nicht mehr gewappnet. Er machte Anfang 2009 endgültig Schluss, ehe der Klub unter Jürgen Klopp sein nächstes Meister-Hoch erlebte.
„Ich hatte sicher nicht die außergewöhnlichen Talente eines Andi Möller mit seiner Schnelligkeit oder Karl-Heinz Riedles Kopfballstärke“, blickte Ricken am Ende seiner Karriere in der Taz auf seine zwiespältige Karriere zurück: „Aber natürlich hatte auch ich meine Qualitäten. Ich war sehr zielorientiert, hatte eine gewisse Siegermentalität. Es kommt ja nicht von ungefähr, dass ich in wichtigen Spielen eine besondere Bedeutung hatte.“
Beim BVB im Establishment angekommen
Für die Zeit nach der Karriere hatte sich Ricken schon früh mit einem BWL-Studium an der Fernuni Hagen gerüstet, der BVB berief ihn nach einer internen Schulung schon 2008 als Nachwuchskoordinator, wo er zwölf Jahre lang erfolgreich wirkte.
Anfang 2021 folgte die Beförderung zum Direktor des Nachwuchsleistungszentrums, nun die überraschende Kür zum Nachfolger Hans-Joachim Watzkes als Geschäftsführer Sport.
Knapp drei Jahrzehnte nach seiner Rebellen-Inszenierung ist der nach der Scheidung von Moderatorin Andrea Kaiser in zweiter Ehe verheiratete Familienvater längst im Fußball-Establishment angekommen. Mit seinem früheren Image als Nadelstreifen-Kritiker ist Ricken bei seinem Marsch durch die Institutionen das eine oder andere Mal aufgezogen worden - wobei oft etwas unterging, was er damals eigentlich hatte ausdrücken wollen.
„Typen in Nadelstreifen“: Was Ricken meinte
Wie Ricken dem Spiegel seinerzeit in einem damals schon erstaunlich reflektierten Interview verriet, hatte er den berühmten Spot selbst mitgestaltet und identifiziere sich damit - er war auch als Antwort auf den Hype während seiner Teenie-Jahre gedacht.
Das „Image eines fußballspielenden Popstars“, das ihm bestimmte Medien hätten verpassen wollen, behage ihm nicht, sagte er damals: Ihm sei die Konzentration aufs „Wesentliche“, das Fußballspielen, wichtig.
Auch seine vielfach als scheinheilig kritisierte VIP-Logen-Schelte verteidigte er: Er habe ein ehrliches Problem mit „Trittbrettfahrerei“ und möge es nicht, „wenn eine bestimmte soziale Schicht nur dann auftaucht, wenn der Erfolg da ist. Und wenn der Erfolg weg ist, dann sind auch diese Leute wieder weg.“
An dem Anspruch, in einer Welt der endlosen Geschäftemacherei trotz allem für Authentizität zu stehen, hat Ricken sich stets messen lassen. In seiner neuen Rolle als Big Boss von Deutschlands größter und emotionalster Fußball-AG wird diese Herausforderung nun umso größer.