Hans Meyer ist eine Legende bei Borussia Mönchengladbach. In der Saison 1999/2000 übernahm der Fußballlehrer den Verein kurz nach dem Abstieg in die 2. Bundesliga, ein Jahr später gelang ihm die Rückkehr ins Oberhaus. Im März 2003 trat er auf eigenen Wunsch zurück.
„Max ist im Herzen ein Bayer geblieben“
In der Spielzeit 2008/2009 kehrte er für ein Jahr noch einmal zurück. Von 2011 bis März dieses Jahres war Meyer viertes Präsidiumsmitglied bei Borussia Mönchengladbach. Zuletzt wurde neu gewählt und Meyer schied aus Altersgründen aus.
Der 81-Jährige hat SPORT1 jetzt für ein Exklusiv-Interview bei sich zu Hause in Nürnberg empfangen, um ausführlich über seine Zeit bei der Borussia zu sprechen.
SPORT1: Herr Meyer, wie blicken Sie auf Ihre Zeit als Präsidiumsmitglied bei Borussia Mönchengladbach zurück?
Hans Meyer: Als Trainer war ich gegenüber Funktionären meist sehr voreingenommen und hatte ein eher gespanntes Verhältnis zu ihnen. Und wenn ich einmal mit ihnen zu tun hatte, hat es meistens auf dem Platz gestunken. Es wurde über meine Arbeit geurteilt, obwohl man mich gar nicht richtig kannte. Es wurde auch viel dummes Zeug erzählt. Manche nannten mich sogar beratungsresistent. (lacht) In meinen fast 13 Jahren im Präsidium von Borussia hat sich mein Bild jedoch von denen, die dort fleißige, gewissenhafte und loyale Arbeit abliefern, grundlegend geändert. In Gladbach habe ich so viele gute Mitarbeiter erlebt, die meine vorher einseitige und voreingenommene Meinung gedreht haben.
SPORT1: Schauen Sie wehmütig zurück?
Meyer: Ich schaue mit keinerlei Wehmut zurück. Es waren 13 wunderschöne und aufregende Jahre. Wenn jemand morgen meine Grabrede hält, dann unterschreibe ich vorher, dass ich in meinem Leben ein Glücksschwein war. Ich konnte mein Hobby zum Beruf machen. Das, was ich in meinem Leben immer gerne gemacht habe, konnte ich bis zum Ende erleben. Ich habe das im Präsidium bei Borussia auch nicht völlig umsonst gemacht. Ich war immer dabei, unter anderem bei den vielen internationalen Spielen und hatte die Befriedigung, dass meine Eitelkeit auch noch bedacht wird. Und ich hatte als viertes Präsidiumsmitglied für all das gar keine Tagesverantwortung. Ich bin stolz auf den Fußball, der in dieser Zeit größtenteils gespielt wurde. Aktuell befinden wir uns leider in einer komplizierten Situation, die hoffentlich in absehbarer Zeit positiv gelöst wird.
„Favre sollte ein Denkmal gesetzt werden“
SPORT1: Sie haben mit der Borussia so viel erlebt, wie bewerten Sie die Erwartungshaltung um den Klub?
Meyer: Die selbst produzierte Erwartungshaltung in Gladbach ist extrem hoch, doch der aktuelle Kader ist dieser noch nicht oder nicht mehr gewachsen. Als ich 1999 als Trainer in der 2. Bundesliga bei Borussia begann, hätte niemand geglaubt, dass wir zwölf Jahre später in der Champions League spielen würden. Man sollte viele Personen dafür auszeichnen und sie zu Ehrenmitgliedern ernennen oder Denkmäler für sie errichten.
SPORT1: Ist Geschäftsführer Roland Virkus der richtige Mann an der Spitze der Gladbacher?
Meyer: Ich habe zu diesem Klub und zu vielen Personen Vertrauen, weil dort etwas aufgebaut wurde, was nachhaltig ist und nicht zusammenfällt, nur, weil einige aus Altersgründen gehen. Vieles wird auf einzelne Personen projiziert, wenn es nicht läuft. Das hat man im Fußball nicht im Griff. Roland Virkus hat Borussia in einer unglaublich schwierigen Situation übernommen und hatte im Nachwuchsbereich bereits hervorragende Arbeit geleistet. Er hat seit seiner Amtsübernahme eine ganze Menge richtig gemacht. Er ist zusätzlich unglaublich engagiert und sein Herz schlägt für Borussia. Und er weiß, dass Luft im Ball ist. (schmunzelt)
SPORT1: Wie beurteilen sie die aktuell fehlende Konstanz auf der Trainerbank der Gladbacher?
Meyer: Fehlende Konstanz? Max Eberl hat in seiner Amtszeit Situationen geschaffen, in denen wir fast regelmäßig euphorisch sein konnten. Und mit den Trainern, die er verpflichtet hat, ein glückliches Händchen bewiesen. Es gab auf der Trainerposition durchaus Konstanz.
SPORT1: Sie meinen Lucien Favre.
Meyer: Ja, mit Lucien Favre hat Max richtig ins Gold gegriffen. Favre sollte ein Denkmal gesetzt werden. Unter ihm haben wir mit einer starken Defensive erfolgreichen Fußball gespielt. Nach Favre kam Andre Schubert, der in große Fußstapfen trat, aber dennoch die Qualifikation zur Champions League schaffte. Mit Dieter Hecking waren wir ebenfalls zufrieden. Er war ein solider Trainer, aber kein Himmelsstürmer. Dann kam Marco Rose und bis zu seinem BVB-Outing lief es mit ihm überragend. Doch Rose war anscheinend der einzige Egoist im Fußballgeschäft - Achtung Ironie - und ging, was ihm vertraglich erlaubt war.
Adi Hütter wurde aus meiner Sicht unterschätzt. Er kam unter schwierigen Voraussetzungen und hat junge Profis wie Luca Netz, Joe Scally, Louis Jordan Beyer und Manu Koné zu Stammspielern gemacht. Kaum jemand erwähnte, wie mutig das war. Von Anfang an war man gegenüber Hütter voreingenommen, weil er nicht an das anknüpfte, was die Jahre zuvor geleistet wurde. Man hat Hütter in Gladbach Unrecht getan.
Pokal-Aus „nicht überraschend“
SPORT1: Wie sehen Sie den aktuellen Trainer, Gerardo Seoane?
Meyer: Ich hatte anfangs ein intensives Gespräch mit ihm und fand seine Ansichten über Fußball und seine Ziele überragend. Er ist mir äußerst sympathisch. Ich finde, dass er bisher mit dem ihm zur Verfügung stehenden Kader eine den Umständen entsprechende ordentliche Leistung erbracht hat.
SPORT1: Bereitet Ihnen der Abwärtstrend Sorgen?
Meyer: Der Abwärtstrend bereitet mir schon seit längerem Sorgen. Unser Kader hat auch durch die Corona-Zeit deutlich an Qualität verloren. Und seit dem Verlust von Lucien Favre bin ich der Meinung, dass die klugen Gedanken unserer Trainer selten darauf ausgerichtet waren, die Wertigkeit der Drecksarbeit in unserer Mannschaft hochzuhalten. Seit Favres Abgang haben wir Probleme mit der Abwehrarbeit der gesamten Mannschaft.
SPORT1: Ruht sich der Klub zu sehr auf der Vergangenheit aus?
Meyer: Die Gefahr, dass man sich ausruht, besteht immer. Ich glaube aber, dass sich alle Verantwortlichen bei Borussia durchaus bewusst sind, was die Öffentlichkeit erwartet. Da ist nicht einer dabei, der denkt, dass wir uns für das, was in den vergangenen Jahren geleistet wurde, etwas kaufen können. Ich saß im Präsidium und hatte nie das Gefühl, dass man etwas verschläft, weil man sich auf der Vergangenheit ausruht. Bei Borussia ist gar nichts bequem.
SPORT1: Das Pokal-Aus in Saarbrücken war sicher auch für Sie überraschend. Da haben Sie doch bestimmt gelitten …
Meyer: Natürlich. Ich bin im Herzen Gladbacher, aber überraschend war es nicht. Wenn man die Chancen von Saarbrücken aus den Pokalspielen gegen Karlsruhe, Frankfurt und Bayern München betrachtet, ergaben sich insgesamt 14:12 Chancen für die Saarländer. Hinzu kam der schwer zu bespielende Platz und die Tatsache, dass von der Grundstimmung her gerade bei Borussia nicht alles bestens läuft. Dass wir ausgerechnet zwei Minuten vor Ende der Spielzeit in so einen Konter laufen, hat mich extrem geärgert. Da hätte ich am liebsten den Fernseher zerschlagen. Die Chance, dieses Jahr das Pokalfinale zu erreichen, hätte Gladbach richtig gut getan. Mich hat das sehr schlecht schlafen lassen.
Eberl zu Bayern? „Eine fantastische Sache“
SPORT1: Lassen Sie uns nochmal über Max Eberl sprechen. Er wurde nach seinem Abschied in Gladbach scharf kritisiert. Zu Unrecht?
Meyer: Ich weiß, dass ihm viele Unrecht tun. Max hat bei Borussia so viel Herzblut gelassen, dass es mir widerstrebt, seine Fehler, die er selbst zugibt, zu beurteilen. Max ist ein wenig an seinem eigenen Ehrgeiz gescheitert. Das kann man ihm nicht anlasten. Wenn man heute mit ihm spricht, ist er durchaus kritisch. Ihm jetzt aber zu unterstellen, dass alles gespielt war, ist nicht korrekt. Max hatte in Gladbach eine glänzende Zeit mit einem Abgang, über den er selbst sagt, dass einige Irritationen dabei waren. Er wird mich auch sicher anrufen, ob ich bei Bayern Trainer werden will. Aber das wird kompliziert. (schmunzelt)
SPORT1: Wie finden Sie es, dass Eberl jetzt bei Bayern ist?
Meyer: Es ist eine fantastische Sache. Ich habe ihm auch gratuliert, weil ich weiß, dass er im Herzen immer ein Bayer geblieben ist. Dass dies jetzt für ihn Realität wird, ist herrlich. Max ist hoffentlich so selbstbewusst, dass seine Zweifel ihn nicht daran hindern werden, richtig gut zu arbeiten. Ich hoffe, er kriegt das gut hin. Die Bayern brauchen nach den unruhigen Monaten mit dem Abschied von Rummenigge und Hoeneß sowie dem Ausscheiden von Kahn und Salihamidzic wieder einen roten Faden. Zuletzt lief nicht mehr alles wie aus einem Guss.
SPORT1: Wie sehen Sie die aktuelle Situation um die deutsche Nationalmannschaft? Es herrscht ja jetzt wieder etwas Euphorie.
Meyer: Diese neue Euphorie ist entstanden, weil wir unser deutsches Problem zuletzt so dramatisiert haben. Wenn man alles betrachtet, was seit 2014 mit dem deutschen Kader passiert ist, müssen wir feststellen, dass wir in der Ausbildung und in der Einschätzung einiger deutscher Spieler im Vergleich zu 2014 viel weniger Weltklasse im Kader haben. Man hat zu lange an Spieler geglaubt, die 2014 Weltmeister waren.
„Ich freue mich für Nagelsmann und Völler“
SPORT1: Hat Nagelsmann jetzt Mut bewiesen?
Meyer: Ja. Er hat als Erster klar angesprochen, dass es an den Spielern liegen könnte, dass es nicht rund läuft. Daraufhin hat Nagelsmann sieben oder acht Spieler dazugeholt, die vor einigen Monaten noch keiner auf dem Zettel hatte. Das ist ein totaler Umbruch. Plötzlich spielt Mittelstädt (Maximilian, Anm. d. Red.) ein fantastisches Jahr mit Stuttgart. Auch Andrich ist neu, zwar nicht fußballerisch Weltklasse, aber zweikampfstark und taktisch versiert. Außerdem ist er mit seinem Charakter für dieses Team Gold wert.
Das, was Nagelsmann gemacht hat, war sehr riskant und gleichzeitig schlau. Wie wir als Mannschaft nun agieren, auch im defensiven Block, gefällt mir sehr. Ich freue mich sehr für Nagelsmann und Rudi Völler. Ich habe nur eine Bitte: Lothar Matthäus sollte Nagelsmann bloß nicht torpedieren, indem er als Zielstellung den EM-Titel nennt.
SPORT1: Sie haben einmal gesagt, dass Sie sich einen Trainerjob beim FC Bayern zutrauen. Sie sagten damals: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich mich verändert hätte. Ich hätte es mir sehr gut vorstellen können, vielleicht wäre es aber auch total schiefgegangen.“
Meyer: Als ich das sagte, war ich bereits selbstbewusst genug, denn ich hatte das Gefühl, dass man mir im Fußball nicht mehr viel Neues sagen konnte. Natürlich hätte ich gejubelt, wenn irgendjemand bei Bayern auf die Idee gekommen wäre, mich zu holen. Ich hätte sogar laut ‚Ja‘ gerufen, auch wenn ich nach drei Monaten hätte gehen müssen, weil mir bei den Bayern die Lederhosen überhaupt nicht gepasst hätten.
SPORT1: Sie waren oft im SPORT1-Doppelpass zu Gast. Gab es einen besonderen Auftritt, der im Gedächtnis geblieben ist?
Meyer: Ich hatte viele nette Momente, nicht nur, weil wir hinterher immer sehr gut gegessen haben. Wenn man weiß, wie gerne ich esse, versteht man, warum ich immer gerne gekommen bin. (lacht) Aber den letzten Doppelpass mit mir habe ich nicht so angenehm in Erinnerung. Da hatte ich das Gefühl, dass die gesamte Runde bei einem Thema geschlossen gegen mich alten Greis vorgegangen ist. Ich habe mich danach über mich selbst geärgert, weil ich mich unnötigerweise darüber aufgeregt und in die Enge gedrängt gefühlt habe. Ich hätte nicht gedacht, dass mir das in meinem Alter noch passiert. Aber dass diese Sendung mit dieser netten Phrasenschwein-Idee so lange besteht, zeigt, wie gut sie bis heute angenommen wurde. Und darauf kommt es im Show-Business ja an.