„Wir haben wahnsinnig schlechte Entscheidungen getroffen“, sagte Thomas Tuchel direkt nach der 0:3-Niederlage bei Bayer Leverkusen. Auch der erfahrene Cheftrainer musste erst einmal die Pleite gegen den Tabellenführer verarbeiten, zumal seine taktische Herangehensweise vielseits kritisiert wurde.
Diese Lehren muss Tuchel ziehen
Der 50-Jährige hatte für die Partie gegen Bayer 04 auf eine bis dato in dieser Saison nicht verwendete Formation umgestellt: vom angestammten 4-2-3-1 auf ein 3-4-2-1. Tuchel wollte dem Anschein nach das eigene Zentrum gegen Leverkusens Vier-Mann-Box mit Granit Xhaka und Florian Wirtz stärken. Doch nach einer ansprechenden Anfangsviertelstunde verlor Bayern zusehends die Spielkontrolle, auf welche Tuchel eigentlich so viel Wert legt, erst recht mit einer defensiv immer noch instabilen Mannschaft.
Leverkusens Pressing zwang die Bayern, die aus der ersten Linie vor allem mit Dayot Upamecano andribbeln wollten, um die erste Pressingphase zu überstehen, des Öfteren zu riskanten Pässen und Ballverlusten. Die Überlegung Tuchels, mit zwei hochstehenden Flügelverteidigern zu spielen, erwies sich dadurch als kontraproduktiv, weil sich etwa im Rücken von Sacha Boey immer häufiger große Räume auftaten.
Der 30-Millionen-Neuzugang stellte beim ersten Gegentor zudem seine weithin bekannten Schwächen in der Endverteidigung zur Schau. Das war nur das i-Tüpfelchen auf einer insgesamt recht schwachen Defensivleistung. „Das Tor, was wir dann kassieren, kannst du eigentlich mit einer Fünferkette gar nicht kassieren. Der Ball geht flach an fünf Spielern vorbei“, analysierte Bayerns Cheftrainer.
Bayern-Improvisation in der Offensive
Zunächst sollte man Tuchel zumindest ein wenig Respekt dafür entgegenbringen, dass er in einem Spiel mit großer Tragweite etwas riskiert hat. Er hätte ebenso mit dem angestammten Personal in der bekannten Grundstruktur antreten können und es wäre womöglich ein Remis herausgesprungen. In der Position als Leverkusen-Verfolger wollte der Bayern-Trainer jedoch die Oberhand gegen Xabi Alonso und die Werkself gewinnen. Das misslang.
Der Formationswechsel war insofern problematisch, als dass Tuchels Team ohnehin nicht eingespielt sein konnte. Nun kamen noch ein paar Rekonvaleszenten und Turnierteilnehmer zurück. Dadurch stand ein recht bunt zusammengewürfelter Haufen auf dem Rasen der BayArena. Ein paar Trainingseinheiten unter der Woche reichen nicht, damit die Automatismen auf allerhöchstem Niveau greifen.
Darüber hinaus war Bayern auch in den Vorwochen nicht aufgrund einer systemischen Überlegenheit erfolgreich, sondern weil vor allem die Offensivkräfte um Jamal Musiala, wenn sie einmal den Ball in den vorderen Zwischenräumen erhielten, sich mit ihrem Spielverständnis und ihrer Kreativität Torchancen erspielen konnten.
Personelle Engpässe: Tuchel kann aufatmen
Der Spielaufbau bleibt ein großer Knackpunkt bei den Bayern. Da Tuchel nun personell immer mehr aus dem Vollen schöpfen kann, muss er sich für die anstehenden Aufgaben, etwa das Achtelfinalduell mit Lazio Rom in der Champions League (Mittwoch ab 21 Uhr im LIVETICKER), Gedanken über die optimale Formation und Spielerbesetzung machen. Das Andribbeln von Upamecano, wie es auch gegen Leverkusen versucht wurde, kann ein guter Ansatz für die Spieleröffnung sein, weil Bayern über keinen herausragenden Passspieler in der Abwehrlinie verfügt und Upamecano ohnehin schon des Öfteren in seiner Karriere die Rolle des Andribblers ausfüllen sollte.
Essenziell ist anschließend an die Vorstöße des französischen Verteidigers jedoch die Balance im Spielaufbau. Sollte Tuchel fortan mehr das Flügelspiel betonen, so müssen die beiden Sechser jeweils die Raumgewinne absichern, sprich in der Position sein, um gegebenenfalls in die freie Zone hinter Außenverteidiger und Flügelstürmer zu gelangen, falls der Ball verloren geht. Möchte Tuchel mit seinem Team mehr durch die Mitte kommen und etwa Leon Goretzka als nachrückenden Sechser benutzen, so sollte wenigstens ein Außenverteidiger, etwa Raphael Guerreiro auf links, etwas zurückhängen und das Zentrum im Auge behalten.
Individuell sind die Bayern allemal in der Lage, in der K.o.-Phase der Champions League weit vorzustoßen und auch Bayer Leverkusen noch einen engen Titelkampf zu liefern. Jedoch haben die Verantwortlichen vielleicht zuletzt etwas zu sehr auf die individuellen Qualitäten und weniger auf ein kohärent funktionierendes Mannschaftsgefüge geachtet.
Dass etwa für die Verstärkung der Rechtsverteidigerposition sowohl Kieran Trippier als auch Boey ganz oben auf der Liste standen, mag angesichts der deutlich unterschiedlichen Spielerprofile überraschen. Tuchel hat in der Vergangenheit, nicht zuletzt beim FC Chelsea, bewiesen, dass er aus einer Ansammlung von Individualisten ein Erfolgsteam formen kann. Bei Bayern ist ihm das bislang noch nicht gelungen. Viel Zeit bleibt ihm nicht mehr.