Während sich Xabi Alonso auf der Pressekonferenz verhielt, als hätte Bayer Leverkusen soeben ein ganz normales Bundesliga-Spiel gewonnen, stand Thomas Tuchel die Unzufriedenheit ins Gesicht geschrieben. Über 90 Minuten schafften es die Bayern nie, ein wirkliches Topspiel (0:3) zu bieten und prallten mit ihren Angriffsversuchen immer wieder an einer abgeklärten, konzentrierten Werkself ab. Dass auch noch ein eigener Spieler der Matchwinner des Gegners wurde, passte ins Bild - wie an Tuchels Reaktion unschwer zu erkennen war.
Ein Tor legt Bayerns Verfehlung offen
„Es gibt in England so eine schöne Regel: Wenn du Spieler ausleihst, dann können die nicht gegen dich spielen. Ich finde, das macht am meisten Sinn. Ich habe es einfach zu oft erlebt, dass ausgerechnet der Spieler daran beteiligt ist. Diese Regel gibt es in Deutschland leider nicht. Deshalb sind wir diejenigen, die heute darunter leiden“, antwortete der zerknirschte und genervte Tuchel auf eine Frage nach Josip Stanisic. Der ist eigentlich ein Münchner, sogar ein Jugendspieler der Bayern, für diese Saison aber an Leverkusen ausgeliehen.
Worauf Tuchel natürlich anspielte, war das Führungstor des Tabellenführers. Das schoss ebenjener Stanisic, weshalb das Wort „ausgerechnet“ kaum treffender hätte verwendet werden können. Es sei „so eine typische Fußballgeschichte“, gestand auch Jan-Christian Dreesen. Doch typisch, wie es Bayerns Vorstandsboss formulierte, war nur auf den ersten Blick richtig und fast schon eine Untertreibung. Schließlich hatte dieser Treffer etwas noch viel Spezielleres und wirkte beinahe wie der ironische Höhepunkt einer bizarr anmutenden Geschichte.
Stanisic überrumpelt seinen eigenen Nachfolger
Und einer Geschichte, bei der sich die Bayern wohl nicht zum ersten Mal fragen dürften: Haben wir in manchen Momenten des vergangenen Sommers wirklich das Richtige getan? Immerhin schaffte sich der Rekordmeister damals selbst eine Baustelle, ließ den flexiblen Abwehrspieler ziehen - und das zu einem direkten Konkurrenten. Dazu gaben die Münchner auch Benjamin Pavard ab und hatten mit Noussair Mazraoui plötzlich nur noch einen Rechtsverteidiger im Kader. Lange musste dort gar Konrad Laimer einspringen.
Erst im Winter holte der Klub dann die von Tuchel lang ersehnter Verstärkung, Sacha Boey. Satte 30 Millionen Euro überwiesen die Bayern für den Franzosen an Galatasaray Istanbul, der die entstandene Stanisic-Lücke nun mit halbjährigem Verzug schließen soll. Doch bei seinem Startelf-Debüt für den neuen Arbeitgeber - und auch da passt das Wort „ausgerechnet“ perfekt - traf Boey auf seinen Vorgänger, wirkte dabei oft desorientiert. Besonders eklatant: Beim 1:0 vergaß Boey den aufgerückten Stanisic in seinem Rücken.
Zu Boeys Ehrenrettung lässt sich sagen: Der 23-Jährige musste überraschend als Linksverteidiger und wie nicht gewohnt auf der rechten Seite ran. Dass Boey neben Stanisic, der auf ganzer Linie überzeugte und gegen den Stammverein seine beste Saisonleistung lieferte, schlecht aussah, dürfte in München die Frage nach Sinn und Unsinn des Stanisic-Transfers aber trotzdem noch einmal anheizen.
„Jemand, der immer weitergearbeitet hat“
Denn die Bayern scheinen sich bei Stanisic schlichtweg verzettelt zu haben. „Um sich auf höchstem Niveau weiterzuentwickeln, braucht er kontinuierliche Einsätze“, betonte Dreesen im Sommer nach Bekanntgabe des Wechsels. Jetzt bewegt sich Stanisic, der an den Rekordmeister noch bis 2026 gebunden ist, mit seinem neuen Team sogar auf einem höheren Niveau als die Münchner selbst, könnte ihnen den Meistertitel tatsächlich abluchsen.
Was diese Geschichte noch besonderer macht: Stanisic ist unter Xabi Alonso keineswegs gesetzt. Stattdessen war der Weg in die Startelf für den beidfüßigen Abwehrspieler lange verbaut, zu stark agierten seine Teamkollegen - und zwar Woche für Woche. Erst mit dem Afrika-Cup und der Abwesenheit von Edmond Tapsoba sowie Odilon Kossounou änderte sich die Lage und Stanisic konnte seine Chance auf den letzten Drücker noch nutzen.
„Ich freue mich für Josip. Er ist jemand, der immer weitergearbeitet hat – auch wenn es manchmal Enttäuschungen gab. Er hat immer Gas gegeben und die Mannschaft gepusht“, lobte ihn Jonathan Tah am Samstag. Fußballerisch genoss Stanisic sowieso schon immer den Ruf einer absolut verlässlichen Kraft, allerdings weder mehr noch weniger als das. Der frühere Münchner Trainer Julian Nagelsmann beschrieb seine Fähigkeiten einst als „ordentlich“, ohne Ausreißer „in Richtung Weltklasse“ oder ins andere Extrem.
Leroy Sané fragte Stanisic am Samstag nach Spielende deswegen halbernst: „Seit wann kannst du ein Tor schießen?“ Bei den Bayern hätte der kroatische Nationalspieler diese Qualitäten wohl häufiger zeigen können. Weil Kossounou, der den Afrika-Cup mit der Elfenbeinküste gewonnen hat, zeitnah zurückkehrt, wird sich Stanisic nämlich trotz allem bald wieder öfter auf der Bank wiederfinden - und in eine ähnliche Situation wie in der Hinrunde kommen.