Union Berlin steckt in der schwersten Krise, seit Trainer Urs Fischer 2018 zu den Eisernen gekommen ist. Der Schweizer führte den Verein von der Zweiten Liga bis in die Champions League. Doch in dieser Saison haben die Berliner die zurückliegenden elf Spiele in Folge verloren und stecken in der Bundesliga im Tabellenkeller.
Union? „Für mich gibt es nur einen“
Der frühere Torwart Jan Glinker sieht das natürlich mit Sorge. Der 39-Jährige ist eine Union-Ikone, spielte von 2001 bis 2014 für den Verein und wurde insgesamt viermal (2007 bis 2009, 2012) zum „Unioner des Jahres“ gewählt.
Vor dem Heimspiel von Union gegen Eintracht Frankfurt am Samstag (Bundesliga: Union Berlin - Eintracht Frankfurt, ab 15.30 Uhr im LIVETICKER) spricht Glinker im exklusiven SPORT1-Interview über den Absturz seines Ex-Klubs, eine mögliche Trennung von Fischer und verrät seinen Favoriten auf dessen Nachfolge.
SPORT1: Herr Glinker, Union hat elf Pflichtspiele in Folge verloren. Was sagen Sie dazu?
Jan Glinker: Die Situation ist extrem schwierig. Ich hatte gehofft, dass im Pokal die Wende kommt. Im Nachhinein dachte ich nur, ‚Wieder dasselbe!‘ Es ist wirklich sehr bitter, was Union gerade durchmacht. Langsam wird es auch eng für Trainer Urs Fischer, und obwohl es mir leid tut für ihn, ist die Lage kritisch.
SPORT1: Am Wochenende gegen Eintracht Frankfurt wird Urs Fischer noch auf der Bank sitzen.
Glinker: Das ist schon einmal gut. Dann hoffen wir, dass es dort eine Wende gibt, damit es ruhig bleibt und Urs Fischer weiterarbeiten darf. Er hat so viel mit Union erreicht.
SPORT1: Wie erklären Sie sich diese Krise bei den Eisernen?
Glinker: Das ist schwer zu sagen. Es kommt vieles zusammen und liegt sicher nicht nur an der Mehrfachbelastung durch die Champions League. Auch die neuen Spieler (Gosens, Bonucci, Volland, etc., d. Red.) haben noch nicht so eingeschlagen wie in den Jahren zuvor. Dann hat Union auch nicht das nötige Spielglück, wodurch das erforderliche Selbstvertrauen fehlte. Und dann steckst du tief in der Krise. Leider liegt Union wirklich am Boden.
Glinker: „Volland schon verwunderlich“
SPORT1: Wie sehen Sie die drei Star-Einkäufe Gosens, Volland und Bonucci? Volland hat noch nicht einmal getroffen.
Glinker: Das mit Volland ist schon verwunderlich. Gosens hat bisher die Erwartungen erfüllt, spielte in jedem Spiel und erzielte schon vier Tore. Aber alle drei mussten sich auch erst einmal an das neue Umfeld gewöhnen, was nicht immer so leicht ist. Bonucci und Gosens kamen aus Italien, Volland aus dem schönen Monaco. In so einer Krise, in der Union jetzt steckt, ist es umso schwerer als neuer Spieler. Es ist für alle Unioner keine schöne Situation.
SPORT1: Sie haben inklusive der Zeit in der Jugend 13 Jahre für Union Berlin gespielt. Wie sehr verfolgen Sie eigentlich noch die Eisernen?
Glinker: Ich behalte Union immer im Auge und schaue mir die Spiele stets zu Hause an. Bei den Topspielen bin ich auch im Stadion. Ich nehme mir auch die Zeit, um mir jedes Spiel anschauen zu können.
SPORT1: Wie blicken Sie zurück auf Ihre Zeit bei Union?
Glinker: Es war eine unglaublich schöne Zeit. Als ich zu den Profis kam, haben wir viele positive Erfahrungen gemacht. Zwar gab es einen kleinen Rückschlag, aber im Laufe der Jahre ging es kontinuierlich bergauf. Vom Start in der Oberliga bis hin zur Zweiten Liga - das war wirklich unglaublich! Die Erinnerungen an diese Zeit sind durchweg positiv, besonders unter der Leitung von Uwe Neuhaus, der mich die meiste Zeit betreute. Es wäre undenkbar gewesen, dass wir einmal in der Bundesliga und sogar in der Champions League spielen würden.
Fischer? „Irgendwann musst du dich vom Trainer trennen“
SPORT1: Sie wurden vier Mal zum „Unioner des Jahres“ gewählt. Mehr Lob geht fast nicht, oder?
Glinker: Das erfüllt mich noch heute mit Stolz. Das zeigt auch, dass ich ein gewisses Ansehen im Klub und bei den Fans hatte. Es hat mich jedes Mal total gefreut. Und es war eine Bestätigung für mich, dass meine Leistungen einigermaßen gepasst haben. Ich stamme aus dem Nachwuchs, und das mögen die Fans ohnehin. Ich war auch bodenständig und immer sehr zugänglich, und so etwas kommt gut an bei den Fans. Man konnte mich immer ansprechen, das haben die Leute gemocht. Ich war einer von ihnen.
SPORT1: Lassen Sie uns über Urs Fischer sprechen. Ist er bei einer weiteren Niederlage gegen Eintracht Frankfurt überhaupt noch zu halten trotz der Erfolge, die er mit dem Verein gefeiert hat?
Glinker: Ich denke, dass es für Fischer bei einer weiteren Pleite gegen die Eintracht richtig eng werden kann. Dann kommt es darauf an, wie die Jungs aufgetreten sind. Eigentlich muss der Verein dann handeln. So leid es mir auch tun würde, denn Fischer hat so viel geleistet für Union. Ich mag ihn, er hat so eine normale, sympathische Art. Man kann ihm eine Krise zugestehen, aber irgendwann ist es leider vorbei. Wenn Union wieder verliert, dann war es das mit Fischer. Oliver Ruhnert (Geschäftsführer Sport, d. Red.) und Dirk Zingler (Union-Präsident, d. Red.) wollen Fischer sicher nicht entlassen, aber bei zwölf Niederlagen in Folge hast du keine Argumente mehr. Irgendwann musst du dich vom Trainer trennen. Ich hatte schon damit gerechnet, dass nach dem Pokalspiel etwas passiert. Obwohl ich nicht schön finden würde. Fischer passt zu Union, und der Verein hat ihm viel zu verdanken. Da wiederhole ich mich. Mit ihm ging es in den vergangenen Jahren nur nach vorne.
SPORT1: Dankbarkeit gibt es im Fußball aber meistens nicht. Wie sehen Sie es?
Glinker: Also, ich denke, dass es bei Union schon so etwas wie Dankbarkeit gibt. Woanders fliegen die Trainer nach vier oder fünf Niederlagen. Bei Union tut man sich schwer mit einer Trainer-Entlassung, weil man weiß, wie erfolgreich Fischer all die Jahre war. Ein Nachfolger von Fischer hat es bestimmt nicht leicht.
Baumgart „wäre die perfekte Lösung“
SPORT1: Wen könnten Sie sich vorstellen als Nachfolger? Jürgen Klopp wird man nicht bekommen.
Glinker: (lacht) Davon müssen wir leider ausgehen. Für mich gibt es nur einen für Union: Steffen Baumgart. Er wäre die perfekte Lösung, wenn ein neuer Mann kommen soll. Und er würde das auch sofort machen. Ich hatte sowieso erwartet, dass ‚Baumi‘ früher oder später bei Union landet. Das wäre für alle Unioner in einer schwierigen Situation die angenehmste Lösung.
SPORT1: Geschäftsführer Oliver Ruhnert bleibt auch jetzt in dieser schweren Krise ruhig. Er steht auch nicht ständig vor der Kamera.
Glinker: Das finde ich absolut richtig und zeigt, wie er tickt. Wirklich gut. Man weiß doch, welche Erfolge Fischer hatte. Jetzt noch mehr Unruhe reinzubringen und ständig den Druck mit irgendwelchen Statements zu erhöhen, bringt gar nichts. Ich finde es wirklich gut, dass sich Ruhnert da bedeckt hält. Er gibt Fischer und dem Team so die Chance, doch noch die Kurve zu kriegen.
SPORT1: Wie wirkt Fischer in der jetzigen Phase auf Sie?
Glinker: In einer solchen Situation wirst du als Trainer sicherlich nervöser. Fischer macht auf mich jedoch immer noch einen souveränen Eindruck. Die Rote Karte, die er im Pokal erhalten hat, bestätigt natürlich die Kritiker. Dennoch bin ich mir sicher, dass er den Schiedsrichter nicht beleidigt hat. Fischer wirkt weiterhin ruhig, und ich vertraue ihm, aber jetzt muss die Wende her.
SPORT1: Jetzt geht es in der Alten Försterei gegen Eintracht Frankfurt. Ein Sieg muss her.
Glinker: Ohne Wenn und Aber. Bei einer Niederlage am Wochenende könnte die Luft für Fischer noch dünner werden. Bei anderen, normalen Vereinen wäre dann wohl Schluss. Aber Union ist nun mal kein normaler Verein und von daher ist alles möglich. Ein Sieg wäre für alle eine Erlösung. Daher ist es gefühlt ein Endspiel für alle Unioner. Hoffentlich mit einem guten Ende.
„Dann kann nur Baumgart helfen“
SPORT1: Wollten Sie eigentlich nicht mal etwas machen bei Union? Torwarttrainer?
Glinker: Ja, das war tatsächlich mein Ziel. Ich habe bereits meine Trainerscheine und den Torwartschein absolviert und würde immer noch gerne bei Union herein schnuppern. Allerdings gestaltet es sich im Nachwuchsbereich schwierig, da ich einen Vollzeitjob habe und eine Familie mit drei Kindern unterstützen muss. Ich arbeite im Verkauf bei Volkswagen und trainiere gleichzeitig Nachwuchstorhüter.
SPORT1: Wie geht es aus am Samstag?
Glinker: Ich denke positiv und hoffe, dass Fischer bleibt. Union wird mit 2:1 gewinnen. Aber am Samstag gibt es keine Ausreden mehr. Ich will nicht an eine zwölfte Niederlage denken. Aber wenn doch? Dann kann nur Baumgart helfen.