Wenn im Fußball von Tragödien die Rede ist, dann meist in Zusammenhang mit unglücklichen Niederlagen oder schweren Verletzungen. Am 10. November 2009 zeigte sich, wie vermessen diese Bezeichnung eigentlich ist, angesichts einer menschlichen Tragödie.
Das letztes Spiel von Robert Enke
Das letzte Spiel von Robert Enke
Robert Enke, die Nummer 1 von Hannover 96 und Deutschland, warf sich an diesem Dienstag gegen 18.15 Uhr vor einen Regionalexpress am Bahnübergang Neustadt-Eivelse nahe seinem Wohnortes Empede.
Zwei Tage zuvor hatte er noch im Tor gestanden, das 2:2 gegen den HSV war sein 196. Bundesligaspiel. Es war kein gutes Spiel des 96-Keepers, aber es war auch nichts Besonderes passiert, das die kommenden Ereignisse hätte erklären können.
Das Geheimnis der Familie Enke
Die Tat, die die Fußballwelt erschütterte, war keine Kurzschlusshandlung des 32 Jahre alten Familienvaters. Seine Frau Teresa fand einen Abschiedsbrief vor, und selbst wenn sie ihn nicht gefunden hätte, so war sie doch einer der ganz wenigen Menschen, die um den wahren Zustand ihres Mannes wussten: dass sein Leben überschattet war von Depressionen und Versagensängsten, weswegen er schon seit 2003 in Behandlung war.
Das war das bestgehütete Geheimnis der Familie Enke, denn Robert fürchtete wohl nicht ganz zu Unrecht, es könne seiner Karriere nur hinderlich sein.
Davon erfuhr die Fußballwelt am nächsten Tag, als seine tapfere Frau auf einer Pressekonferenz in Hannover vor 150 Reportern von den inneren Kämpfen ihres Mannes berichtete und dem Schatten, der seit Jahren über ihrer Ehe lag: „Wir dachten, wir schaffen alles. Wir dachten, mit Liebe geht das. Aber man schafft es doch nicht.“
Enke auf dem Abstellgleis?
Als das Unglück geschah, bereitete sich die Nationalmannschaft gerade auf das Länderspiel gegen Chile vor, das für den Samstag angesetzt war. Enke war nicht im Kader, da er wegen einer bakteriellen Infektion zwei Monate bei Hannover 96 gefehlt hatte.
Nun war er zwar gerade wieder fit, aber Bundestrainer Joachim Löw verkündete: „Wir haben mit ihm vereinbart, dass er jetzt ganz gezielt trainieren und eventuell auch zusätzliche Einheiten einlegen soll, um an seiner Fitness zu arbeiten.“ Eine nachvollziehbare Maßnahme, aber für Enke war sie von Nachteil, und er reagierte verschnupft darauf, dass er nicht eingeladen wurde, 96-Trainer Bergmann kritisierte Löw sogar dafür.
Man sah es als Zeichen für eine Neuordnung der Torwarthierarchie. In jenen Tagen tobte ein Kampf um die Nummer 1 im Tor. René Adler, Manuel Neuer, Tim Wiese und Enke machten sich Hoffnungen, das Erbe von Jens Lehmann anzutreten. Löw hatte Enke noch im September 2009 zur vorläufigen Nummer 1 bis Jahresende erklärt und dabei von Weltmeister Sepp Maier und Europameister Toni Schumacher Unterstützung erhalten.
Selbst Konkurrent Adler sagte: „Er hat zuletzt sehr gut gespielt, und da es nach dem Leistungsprinzip geht, ist es völlig normal, dass er vorne steht.“ Zwei Monate später sah die Situation schon wieder anders aus, Adler hatte ihn beeindruckend stark vertreten und der kicker titelte am 9. November 2009: „Enke ist der Verlierer“.
Fußball ist nicht alles
So mag er sich in seinen letzten Stunden auch gefühlt haben. Der Druck, die ewigen Zweifler widerlegen zu müssen, wurde übermächtig. Zu viel Druck für einen derart labilen Menschen. Noch am Morgen des 10. November telefonierte er mit seinem Psychiater, der ihm zu einer Zwangseinweisung in die Klinik riet, Enke aber lehnte ab und wählte eine andere Lösung – die endgültige.
Der DFB reagierte angemessen: Das Länderspiel gegen Chile wurde kurzfristig abgesetzt, niemand sah sich in der Lage, jetzt an Fußball zu denken. Ex-Klub FC Barcelona, der am Todestag Enkes ein Spiel austrug, legte spontan eine Schweigeminute ein. Von Sepp Blatter über Franz Beckenbauer bis Angela Merkel, die einen persönlichen Brief an die Witwe schrieb, reichte die Schar der Kondulenten.
Am Sonntag, dem 15. November, fand im Stadion von Hannover eine bewegende Trauerfeier statt, Mitspieler trugen den Sarg in den Mittelkreis und noch immer sind die mahnenden Worte des damaligen DFB-Präsidenten Theo Zwanziger in Erinnerung: „Fußball ist nicht alles!“ Die Fußball-Welt war geschockt, aber die Starre hielt nicht lange an. Es musste weitergehen, auch für Hannover 96. Doch es fiel der Mannschaft schwer, ohne ihren Kapitän die Saison fortzusetzen.
Die Robert-Enke-Stiftung
„Es war eine besondere Belastung, in dieses Stadion einzulaufen, weil man in Gedanken auch immer auf Roberts Sarg zugelaufen ist“, sagte Mitspieler Altin Lala. Aus den nächsten zwölf Spielen holte 96 nur einen Punkt, erst am letzten Spieltag retteten sie sich vor dem Abstieg, der in diesem Fall die Bezeichnung Tragödie wirklich verdient hätte. Doch Hannover 96 hatte genug gelitten in dieser Saison, die im Fußball wichtige Veränderungen angestoßen hat.
Weitere Spieler mit Depressionen oder Burn-out-Symptomen wagten den Weg an die Öffentlichkeit, darunter mit Markus Miller ein weiterer Torwart von Hannover 96.
Die vom DFB, der DFL und Hannover 96 am 15. Januar 2010 gegründete Robert-Enke-Stiftung unterstützt Menschen, die von dieser Krankheit betroffen sind, um weitere Tragödien zu verhindern. Sie wendet sich mit ihrem Angebot ausdrücklich nicht nur an Fußballer, denn Fußball ist nicht alles.
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Anmerkung der Redaktion: Wenn Sie sich selbst von Depressionen und Suizidgedanken betroffen fühlen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge (http://www.telefonseelsorge.de). Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die schon in zahlreichen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen konnten.
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