Es ist eine gängige Floskel, doch deswegen stimmt sie nicht minder: Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Das ist im Alltag so, vor allem aber auch im Fußball, wie der Leverkusener Sieg gegen den SC Freiburg (2:1) einmal mehr bewies. Während sich Xabi Alonso an den Führungstreffer seines Teams „noch lange erinnern“ werde, und zwar in positiver Hinsicht, dürfte Nicolas Höfler die gemeinte Szene ganz anders abgespeichert haben.
Ein Gemälde aus 14 Ballkontakten
Mittendrin war der Freiburger, als die 36. Minute fast abgelaufen war. Da bekam Florian Wirtz rechts an der Strafraumgrenze den Ball von Jeremie Frimpong und schuf ein Kunstwerk - bestehend aus 14 engen Ballkontakten. Der Ausnahmekönner dribbelte, fabrizierte Übersteiger, zeigte geschmeidige Hüftbewegungen, schlug einen Haken nach dem anderen. Jederzeit nah dran: Höfler. Doch der dritte Haken war einer zu viel, der 33-Jährige ging zu Boden. Vorbei war der Tanz auf dem Bierdeckel.
Zwei Schritte huschte Wirtz noch Richtung Tor, schoss dann aus spitzem Winkel wuchtig mit der Innenseite ins lange Eck. Noah Atubolu im Kasten der Breisgauer war vollkommen machtlos. Zu Höflers Ehrenrettung lässt sich sagen: Vincenzo Grifo hatte nicht nur eine Möglichkeit, seinen schwindelig gespielten Teamkollegen zu unterstützen. Diese ließ er allesamt aus, verfolgte das Schauspiel stattdessen aus nächster Nähe als gespannter Zuschauer. Ein folgenschwerer Fehler.
Wirtz? „Heute war er Weltklasse“
Weil das Solo andererseits stark an den argentinischen Weltfußballer Lionel Messi erinnerte, zeigte sich nicht nur Alonso, der nach dem denkwürdigen Moment erstaunt die Mundwinkel verzogen hatte, sichtlich begeistert. „Ein besonderer Spieler, ein großes Talent“ sei Wirtz. „Leroy Sané, (Jamal; Anm. d. Red.) Musiala, Flo - es gibt nicht viele Spieler in der Bundesliga, die so eine spezielle Aktion machen können.“
Selbst Christian Streich lachte, als könne er kaum glauben, was er gerade sah und hatte für den Matchwinner ausschließlich Lob übrig. „Florian Wirtz kannst du nicht verteidigen. Wir sollten froh sein, dass nicht alle in England sind, dass die uns nicht alle wegkaufen“, sagte der Gäste-Coach. Wirtz sei ein „sehr guter Spieler, sehr jung, sehr reif“, betonte auch Freiburgs Kapitän Grifo: „Er spielt frei, das zeichnet ihn aus. Bei so einer guten Mannschaft noch herauszuragen, das spricht für ihn.“
Bayer-Keeper Lukas Hradecky scherzte noch in der Mixed Zone: „Das macht er mit mir auch manchmal im Training. Ich kenne das schon.“ Schon zuvor geriet der Finne über den erneut grandios spielenden Wirtz bei DAZN ins Schwärmen: „Er kann alles. Wenn er einen schlechten Tag hat, spielt er immer noch überdurchschnittlich. Und wenn er solche Tage wie heute hat, entscheidet er Spiele für uns. Heute war er Weltklasse.“
Das zauberhafte Tor zum 1:0 bezeichnete Hradecky als „Dosenöffner“, den die Werkself „dringend gebraucht“ habe. Denn Freiburg igelte sich lange rund um den eigenen Sechzehner ein. Leverkusens Ballbesitzquote lag zwischendurch bei über 80 Prozent, nennenswerte Abschlüsse blieben jedoch Mangelware. Fleißig und diszipliniert schlossen die Gäste alle Räume - und standen trotz des Rückstands auch nach der Pause weiter tief.
Zumindest, bis ein Schuss von Jonas Hofmann nach einer Stunde gegen den Pfosten prallte und über Atubolus Rücken ins Netz kullerte. Erneuter Initiator: Wirtz. Sein zweiter energischer Sololauf stoppte zwar kurz in den Beinen eines Verteidigers, doch der Kreativspieler setzte nach und bediente seinen Nebenmann erfolgreich.
Leverkusens Startrekord auch Wirtz‘ Verdienst
„Das ist die Aggressivität, die er nach der Verletzung erstmal gebraucht hat“, erklärte Sportdirektor Simon Rolfes und fügte hinzu: „Er geht wieder in Zweikämpfe, ist in den Duellen stabil, da macht er gerade einen riesigen Schritt.“ Hinsichtlich der „mentalen Stärken und dem Vertrauen in die eigene Qualität“ mache Wirtz sowieso niemand etwas vor.
Rolfes verwies auf die lange Leidenszeit, die der 20-Jährige hinter sich hat. Im vergangenen Jahr musste Wirtz acht Monate mit einem Kreuzbandriss pausieren. War der Frühentwickler in seiner Karriere bis dahin an keine echte Grenze gestoßen, stellte diese Verletzung, die bekanntlich zu den schwersten im Fußball zählt, den ersten heftigen Rückschlag dar. Umso beeindruckender ist es, wie schnell Wirtz wieder zur alten Form gefunden hat.
Längst ist die Verletzung kein Thema mehr. Nach seiner Rückkehr im Januar hatte Wirtz nur minimale Anlaufprobleme, markierte seither starke neun Treffer in 38 Pflichtspielen und verbuchte 16 Assists. Im offensiven Mittelfeld der Leverkusener fühlt sich der in Pulheim geborene Youngster pudelwohl, besetzt dort klug die Räume, fungiert als Spielbeschleuniger und Taktgeber.
„Hier genießt er hohe Wertschätzung von allen“
Gerade in den jüngsten drei Begegnungen überragte Wirtz. Beim 2:1-Sieg in Wolfsburg war er als Joker das Zünglein an der Waage, schoss Qarabag Agdam danach mit einem Treffer und drei Vorlagen ab und knackte nun das Freiburger Bollwerk.
„Er ist in Wolfsburg reingekommen und hat das Spiel für uns entschieden. Diese Aufmerksamkeit hat ihm auch gutgetan, weil am Anfang der Saison auch die guten Spiele von ihm als gegeben hingenommen werden und alles auf die Neuzugänge geschaut hat“, erklärte Rolfes die aktuelle Topform seines Spielers.
Dass der mediale Fokus inzwischen wieder auf Wirtz liege, mache ihn also nur stärker, meinte Rolfes: „Das Lob hat ihm gutgetan. Und dass er die Aufmerksamkeit bekommen hat für seine hervorragenden Leistungen. Hier genießt er hohe Wertschätzung von allen. Es freut mich, dass er da einen riesigen Sprung gemacht hat.“
Weiterhin thront die Werkself an der Tabellenspitze. In 60 Jahren Bundesliga hat es nur eine Mannschaft gegeben, die besser startete. Das ist nicht zuletzt Wirtz‘ Verdienst. Nebenbei: Den Rekord halten die Bayern, die in der Saison 2015/16 unter Coach Pep Guardiola mit neun Siegen aus den ersten neun Spielen herausgingen. Damals mit dem heutigen Bayer-Trainer Xabi Alonso als Spieler.