Es wurde laut. Und zwar so richtig. Die Spieler von Borussia Dortmund mussten am späten Freitagabend nach dem 2:2 gegen Heidenheim ein gellendes Pfeifkonzert über sich ergehen lassen. Die hoch dekorierten Stars, die zuvor eine 2:0-Führung aus der Hand gaben und sich vom tapferen Aufsteiger noch den Schneid abkaufen ließen, standen mit hängenden Köpfen vor der Südtribüne. Sie wirkten enttäuscht, ratlos, sauer, traurig.
Knall-Gefahr beim BVB!
Ähnlich war die Gefühlslage bereits am 27. Mai. Doch anders als nach der verpassten Deutschen Meisterschaft gegen Mainz, wo man noch gemeinsam mit den Fans trauerte, gab es diesmal die pure Wut der Anhänger. Die Stimmung schwingt allmählich gefährlich um.
In Dortmund entsteht was, waren sich alle vor einigen Wochen noch einig. Fans und Mannschaft seien nach dem niederschmetternden Ausgang in der vergangenen Saison noch enger zusammengerückt. Doch nur drei Monate und drei Bundesliga-Spiele später ist die Euphorie schon wieder komplett verflogen. Schlimmer noch: Die Fans sind sauer auf die Mannschaft, auf den Trainer, auf die sportliche Führung und auf den Vorstand.
„Das ist für uns alle nicht erklärbar“, suchte Sportchef Sebastian Kehl um Mitternacht herum in den Katakomben des Dortmunder Stadions nach der erneut schwachen Leistung nach den passenden Worten. „Das darf uns einfach nicht passieren.“ Und Trainer Edin Terzic war richtig angefressen: „Einer Spitzenmannschaft passiert sowas nicht. Wir haben das Spiel im Griff und geben es zum wiederholten Male aus der Hand. Wenn wir damit nicht aufhören, wird es sehr schwer sein, irgendwann was zu feiern.“
BVB-Führungstrio ist sich uneinig
Die Lage in Dortmund ist toxisch und hochexplosiv – und mittendrin in dieser angespannten Lage sind Sportchef Kehl, Trainer Terzic und Boss Watzke.
Die abgelaufene Transferperiode hat gezeigt, dass das Trio nicht immer mit einer Sprache spricht. Von atmosphärischen Störungen unter den BVB-Verantwortlichen ist bisweilen gar die Rede.
Angespannt ist die Lage unter den Hauptprotagonisten nicht erst seit dem geplatzten Königstransfer von Edson Álvarez aus Amsterdam. Kehl und sein neuer Koordinator Sport, Slaven Stanic, waren sich bereits mit dem Mexikaner (ging letztlich nach West Ham) einig, am Ende brachte Terzic allerdings sein Veto durch und stärkte überraschenderweise Verkaufskandidat Emre Can. Den seit seinem Wechsel im Januar 2020 überwiegend schwach spielenden Routinier (Terzic: „Er ist ein absoluter Siegertyp“) machte der Coach vor der Saison gar zum Kapitän. Eine riskante Entscheidung. Ob sie richtig war, werden erst die nächsten Wochen zeigen.
Nach der Transferperiode bleibt zudem der Eindruck, dass der Dortmunder Kader unausgewogen ist. Offensichtliche Baustellen wie in der Defensive (nur drei Innenverteidiger und drei Außenverteidiger) wurden nicht behoben. Mit 30 Spielern ist die Profimannschaft zudem aufgebläht. Manager Kehl hat mit Altlasten aus der Vergangenheit (Meunier, Hazard, Morey) zu kämpfen. Die Abgänge der Topscorer Jude Bellingham und Raphael Guerreiro (kamen vergangene Saison zusammen auf 41 Scorerpunkte) wiegen schwer.
Transfer- und Kaderplanung wirft Fragen auf
Der sportlich und vor allem gesellschaftspolitisch umstrittene 30-Mio.-Transfer von Felix Nmecha, übrigens ein Wunschspieler Terzics, sowie die Wechsel von Marcel Sabitzer und Ramy Bensebaini sollen das auffangen. Bisher klappt das aber noch nicht. Immerhin haben die Dortmunder in Niclas Füllkrug eine Toplösung für den Sturm und vor allem einen neuen Publikumsliebling gefunden.
Terzic drängte intern auf die Verpflichtung eines groß gewachsenen Backup-Stürmers für Sébastien Haller. Einzig: Niclas Füllkrug, immerhin Deutschlands Nationalstürmer Nummer eins und Bundesliga-Torschützenkönig, ist eigentlich keine zweite Wahl. Nicht nur auf Haller, der auch gegen Heidenheim wie ein Fremdkörper wirkte, sondern auch und vor allem auf Youssoufa Moukoko wächst damit der Druck. Das Top-Talent beklagt sich über fehlendes Vertrauen des Trainers.
Auch Altstars wie Marco Reus, der nach seinem Startelf-Einsatz gegen Köln zuletzt in den beiden Spielen gegen Bochum und Heidenheim auf der Bank saß, und Mats Hummels dürfen mit ihrer aktuellen Situation nicht zufrieden sein.
Der Druck wächst nun auch auf Terzic, der immer mehr Macht erhält und „seine“ Mannschaft bekommen hat. Der 40 Jahre alte Coach ist aufgrund seiner Liebe zu schwarz-gelb zwar äußerst beliebt bei den Fans, wird aber von einigen Anhängern aufgrund der derzeit nicht erkennbaren Entwicklung immer stärker kritisiert.
Terzics Job dank Watzke sicher
Terzic ist ein Workaholic. Ein Taktik-Nerd, der sich täglich den Kopf über seine Spielweise und seine Aufstellung zerbricht. Dass er keine Spielidee hat, kann man ihm gewiss nicht vorwerfen. Nur: Zu erkennen ist sie aktuell nicht. Sowohl gegen Bochum als auch gegen Köln oder Heidenheim sah man seine Grundidee von sich auf den Außenbahnen bildenden Dreiecken, von schnellen Doppelpässen, temporeichen Bewegungen und gefährlichen Bällen in die Spitze oder hinter die Kette nur bedingt.
Ganz aus der Verantwortung stehlen kann sich der Trainer, der gegen Heidenheim viel zu lange am schwachen Haller (verschuldete den Elfmeter zum 2:2) festhielt, also nicht. Er ist Kopf der Truppe. Er stellt die Mannschaft Woche für Woche auf die Spiele ein. Kapiert sie ihn nicht? Oder er sie nicht?
Terzic kann sich immerhin in einer Sache sicher sein: Er hat die volle Rückendeckung von Watzke. Der mächtige Boss, der seit dem Rücktritt von Jürgen Klopp im Jahr 2015 bereits fünf Trainer verschlissen hat, sieht in BVB-Fan Terzic seinen Mann für die Zukunft. „Wir gehen die nächsten Jahre den Weg mit Edin Terzic. Punkt, aus!“, hatte Watzke vor einigen Wochen in einem Interview gesagt – und damit ohne Not eine Job-Garantie für den jungen Trainer ausgesprochen.
Wird die Nibelungentreue im weiteren Saisonverlauf noch zum Problem? Was ist, wenn Terzic den Turnaround in den nächsten Wochen nicht schafft, wenn die Mannschaft auch nach der Länderspielpause keine Stabilität findet? Wenn die internen Ziele, die souveräne Qualifikation für die Champions League, in Gefahr gerät? Kann Watzke sein Wort dann noch halten? Auch auf den Geschäftsführer wächst mit jedem weiteren Misserfolg der Druck.
Wie tief liegen die Probleme beim BVB?
Ein weiteres Problem ist die offenbar fehlende Fitness der Mannschaft. Am Freitagabend wurden die Schwarzgelben in der wilden Schlussphase teilweise von den Heidenheimern überrannt. Die Spieler wirkten ausgelaugt, platt, mit den Kräften am Ende. Hat die USA-Vorbereitung mit Jetlag und Zeitverschiebung doch Spuren am Team hinterlassen?
Der erneut schwache Auftritt gegen Heidenheim wirft viele Fragen auf. Die Probleme beim BVB liegen offenbar tiefer. Julian Brandt, einer der wenigen Profis in Normalform, kritisierte schon nach dem dürftigen 1:1 in Bochum indirekt die Einstellung einiger Teamkollegen.
Jeder sei selbst dafür verantwortlich, dass er zum Saisonstart auf dem „Peak“ ist, sagte der Nationalspieler. Es macht den Anschein, als hätte offenbar nicht jeder BVB-Profi die Vorbereitung voll genutzt. Eine fehlende Professionalität und Einstellung wird beispielsweise Jung-Profis wie Karim Adeyemi, der gegen Heidenheim ausgewechselt wurde, intern immer wieder vorgeworfen. „Wir machen wilde, wilde Fehler“, schimpfte Brandt. „Dann kommt es zum 2:2. Da muss man sich schon an den Kopf fassen.“
Die Lage in Dortmund, sie ist hochexplosiv. Terzic, Kehl, Watzke und die Stars – keiner kann sich aus der Verantwortung stehlen. Ruhe kann beim Dauer-Vizemeister nur reinkommen, wenn nach der Länderspielpause in zwei Wochen gegen Freiburg (16.9.) dreifach gepunktet wird. Bis dahin werden es ziemlich ungemütliche Tage in Dortmund.