Auch lange nach dem Schlusspfiff konnte Thomas Tuchel nicht fassen, wie sich sein Team gerade präsentiert hatte.
Er spielt mit dem Feuer
„Wir geben die einfachsten Tore weg - als hätten wir vier Wochen nix gemacht. Das hat alles nichts mit dem zu tun, was wir vorher gezeigt haben. Das ist erschreckend. Ich erkenne nichts mehr wieder von dem, was wir trainiert haben“, sagte der Bayern-Coach.
Weil die Münchner den Supercup gegen Pokalsieger RB Leipzig (0:3) deutlich verloren haben, schlug der 49-Jährige umgehend Alarm und kritisierte seine Profis scharf. Die Diskrepanz zwischen Stimmung und Form vor dem Match und dem, was die Mannschaft auf dem Platz zeige, sei „eklatant, riesengroß“. Für ihn sei das „im Moment unerklärlich“, stellte ein vollkommen frustrierter Trainer fest.
Die Art und Weise, mit der Tuchel seinem Unmut über die Mannschaft Luft machte, fiel dabei nach Ansicht vieler Beobachter auf ihn selbst zurück.
In der turbulenten Rückrunde der vergangenen Spielzeit hatte Tuchel den Trainerposten von Julian Nagelsmann mit dem klaren Auftrag übernommen, den strauchelnden Rekordmeister wieder in ruhige Bahnen zu lenken. Doch das gelang ihm (trotz Meisterschaft) sowohl im Saisonendspurt noch in der Vorbereitung nur bedingt.
Nach knapp fünf Monaten beim FC Bayern ist seine persönliche Bilanz regelrecht katastrophal. Zwar rettete Tuchel mit dem FCB zumindest noch in letzter Sekunde den Titel in der Bundesliga, trotzdem kassierte er bereits die fünfte Pleite im 13. Pflichtspiel. Demgegenüber stehen lediglich sechs Siege.
Und jetzt nach der Pleite zum Saisonstart der Rundumschlag - Tuchel spielt ein gefährliches Spiel, befanden mehrere Experten im STAHLWERK Doppelpass bei SPORT1.
Tuchel? „Er bringt die Mannschaft gegen sich auf“
Der frühere Bayern-Kapitän Stefan Effenberg erklärte, dass ein Trainer wissen sollte, wo die Probleme liegen und dies auch ausstrahlen sollte.
„Er hatte vier Wochen Vorbereitungszeit, wonach er sich auch gesehnt hat. Und dann liefert Bayern so ein Spiel ab. Das ist enttäuschend und macht Angst. Die Baustellen sind weiter vorhanden“, meinte der SPORT1-Experte.
Effenberg fügte hinzu: „Als Bayern stelle ich mich nach so einem Spiel hin und sage: Ich weiß ganz genau, was ich zu tun habe in den nächsten fünf Tagen, um gegen Bremen einen anderen FC Bayern zu sehen. Das hätte ich von ihm erwartet.“
Auch Andreas Rettig, Ex-Bundesliga-Manager und früherer DFL-Geschäftsführer, äußerte sich verwundert: „Wenn man nach dieser Vorbereitungszeit, das Spiel so dünn analysiert: Ich halte es für unklug, weil er als Trainer mehrere Baustellen aufmacht. Er bringt die Mannschaft gegen sich auf.“
Für Diskussionen sorgt darüber hinaus auch, ob Tuchel sich mit seinen öffentlich vorgetragenen Ansichten zur Kaderzusammenstellung einen Gefallen tut.
Sechser-Streit beschäftigt FC Bayern
So bleibt unter anderem die Forderung nach einem „echten Sechser“ ein Dauerthema in München, weil Tuchel diesen wiederholt forderte und unter anderem erklärte, Führungsspieler Joshua Kimmich habe diesen Spielstil „nicht in seiner DNA“.
Eine Diskussion, die Effenberg nicht nachvollziehen kann. „Wenn ich einen Kimmich habe, einen Laimer und Goretzka, dann wird doch einer die Holding Six spielen können. Wir dürfen nicht vergessen: Bayern wurde mit Kimmich und Goretzka Champions-League-Sieger. Klar, die müssen sich strecken. Die haben nicht mehr die Leistung gebracht im letzten halben Jahr, aber die können das. Daher sehe ich das Problem nicht“, sagte der frühere „Cheffe“ des Rekordmeisters.
Ehrenpräsident und Aufsichtsrat Uli Hoeneß hatte eigentlich auch schon vor einem Monat die Diskussion für beendet erklärt und verkündet: „Die Frage auf der Sechs stellt sich mir gar nicht, weil Laimer ein Transfer ist, an dem wir sehr, sehr viel Spaß haben werden.“ Für Tuchel ist das Thema aber noch nicht erledigt.
Offen ist zudem die Frage, welchen Torhüter die Bayern nun noch holen. Das Comeback von Manuel Neuer ist verschoben, Sven Ulreich genieß offenbar nicht das hundertprozentige Vertrauen.
Keine Ruhe wegen Kane-Geschichte
Effenberg sieht noch ein anderes, ganz grundsätzliches Problem: „In der ganzen Vorbereitung war bei Bayern durch die Kane-Geschichte keine Ruhe. Da haben die drei Verfolger Dortmund, Leipzig und auch Leverkusen das komplette Gegenteil gehabt. Das hat man gestern auch bei Leipzig gesehen. Die haben ein herausragendes Spiel gemacht und gezeigt, wie man Bayern wehtun kann.“
Bayerns Vorstandschef Jan-Christian Dreesen war am Tag nach Tuchels Ratlos-Rede bemüht, seinen Trainer gegen die Kritik zu verteidigen und die von diesem selbst befeuerten Debatten wieder einzufangen.
Tuchel sei nach der Niederlage enttäuscht gewesen, betonte der FCB-Boss bei der Vorstellungs-PK von Kane: „Ich bin überzeugt, dass wir eine hervorragende Mannschaft haben. Es ist gibt überhaupt keinen Grund, an unserer Mannschaft und unseren Spielern zu zweifeln. Wir sind in jedem Wettbewerb konkurrenzfähig.“
Heilsbringer Kane?
Was Tuchel nun plant? Als erste Reaktion griff er nach der Leipzig-Partie zur nächsten ungewöhnlichen Maßnahme, sprach Star-Neuzugang Harry Kane eine Startelfgarantie aus. „Er spielt jedes Spiel, fertig aus. Es gibt keinen Aufbau. Er trainiert mit uns und startet gegen Werder Bremen“, sagte Tuchel mit Blick auf den Bundesliga-Start am Freitag. “
Eine Eingewöhnungszeit benötige der Engländer nicht, vielmehr soll er umgehend in die Vollen gehen: „Harry ist einfach ein top guy mit einer top Persönlichkeit. Er wird uns helfen. Wir brauchen seine Einstellung“. Tuchel entschuldigte sich ich nach der Partie gegen Leipzig gar bei Kane für das Bild, das seine Mannschaft beim Pflichtspielauftakt in die Saison abgegeben hatte.
Klare Worte, die auch nicht bei jedem gut angekommen sind - so meldete sich unter anderem Ex-Nationalspieler Dietmar Hamann bei Bild-TV.
„Die Aussage gestern, dass er sich bei Harry Kane entschuldigt hat und die Mannschaft an den Pranger gestellt hat: Ich glaube nicht, dass das allzu gut ankam bei der Mannschaft. Das fördert mit Sicherheit das Vertrauen nicht“, schilderte Hamann und ergänzte: „Ob Kane der Heilsbringer ist, da bin ich mir nicht so sicher.“
Auch der frühere Bayern-Star ist von Tuchels Ratlosigkeit überrascht. Schließlich sehe der Bayern-Coach sein Team jeden Tag. „Dann kann es nur zwei Gründe haben, warum es nicht gut läuft. Entweder hat die Mannschaft intern Probleme oder sie hat ein Problem mit dem Trainer“, merkte der frühere Bayern-Star an.