Am Abend des 31. August 1993 erlebt die Bundesliga eine der unvergesslichsten Showeinlagen ihrer Geschichte.
Als Okocha Kahn demütigte
In der Gründerzeit verzauberten Dribbler wie Stan Libuda und „Ente“ Lippens die Maßen, später trat Pierre Littbarski ihr Erbe an. Doch in den Neunzigern waren Individualisten schon eine absolute Rarität und wer einen hatte, setzte ihn der Taktik zuliebe erst mal auf die Bank. So auch in Frankfurt, damals im August. (DATEN: Die Tabelle der Bundesliga)
Der Hauptdarsteller des Abends betritt erst mit Verzögerung die Bühne. Augustine „Jay-Jay“ Okocha, der 20-jährige Nigerianer, sitzt für gewöhnlich nur auf der Bank wenn Eintracht Frankfurt spielt.
1993 sind nur drei Ausländer erlaubt, noch weiß niemand etwas von einem gewissen Jean-Marc Bosman, dessen Kampf 1995 die Schranken öffnen wird. Beim Spitzenklub aus Hessen, der an diesem schwülen Sommerabend als Tabellenführer ins Spiel geht, ist die Konkurrenz hochkarätig.
Trainer Klaus Toppmöller setzt auf Anthony Yeboah, Jan Furtok und Kachaber Zchadadse in der Startformation. In den ersten vier Saisonspielen wurde Okocha überhaupt nicht eingesetzt, aber an diesem Tag braucht er seinen Dribbelkünstler.
Okocha kommt erst in der 65. Minute ins Spiel
Unmittelbar nach dem Karlsruher Ausgleich wechselt er ihn ein, es ist die 65. Minute. Es wird ein Protobeispiel für ein „glückliches Händchen“ eines Trainers. Prompt bereitet Okocha das 2:1 von Uwe Bein vor, aber davon spricht hinterher niemand mehr.
Der epochale Auftritt, dem er seinen Kultstatus in der Bankenmetropole verdankt, erfolgt in der 87. Minute. Die Eintracht kontert, der Ball kommt zu Uwe Bein, doch der wird von Oliver Kahn attackiert und spielt etwas überhastet Okocha an. Mittlerweile ist die KSC-Abwehr nachgerückt. (DATEN: Ergebnisse und Spielplan der Bundesliga)
Was tun? Okochas Unentschlossenheit, gepaart mit einer gehörigen Portion Ballverliebtheit und Spielfreude, verdankt die Bundesliga eine phantastische Szene.
Neun Sekunden lang verzögert er den Abschluss, kurvt von rechts nach links durch den Strafraum und zurück. Kahn wirft sich ins Leere, Burkhard Reich grätscht vergeblich, Slawen Bilic und Dirk Schuster stehen nur noch Spalier. (Bericht: Kahn immer noch schwindelig)
Okocha demütigt Oliver Kahn
Der kicker schreibt zwei Tage später: „Kreuz und quer trieb der 20 Jahre junge Ballzauberer aus Nigeria drei Abwehrspieler und Torwart Kahn wie eine Schafsherde durch den Strafraum.“
Keiner weiß, was Okocha vorhat, er selbst wohl auch nicht. Am Spielfeldrand ruft Toppmöller nach eigenen Angaben acht bis neunmal „schieß endlich“. Dann, als die Lücke eigentlich am kleinsten ist, schließt er doch noch ab. Mit links – wieder wirft sich Kahn vergeblich. 3:1! Okocha reißt sich das Trikot vom Leib, was damals noch nicht strafwürdig ist, und tanzt vor den Fans Samba.
Vor den Mikrofonen ist er wieder nüchtern: „Ich habe gewartet, bis ich ein Loch finde. Dann habe ich das Tor geschossen“, sagt der Held des Abends lapidar.
Das Stadion explodiert derweil vor Emotionen. Bis zum Abpfiff kommen die meisten Zuschauer aus dem Jubeln, Singen und ungläubigem Lachen nicht mehr heraus. Okochas Auftritt ist in aller Munde.
Dahlmann wird durch Kommentar berühmt
Auch Sat1-Reporter Jörg Dahlmann wird durch seinen Kommentar berühmt. Ein kurzer Auszug: „Das haben wir seit Libuda nicht mehr erlebt. Das ist das Beste, was der Fußball bieten kann. Liebe Zuschauer, die Zeit für meinen Beitrag ist zwar abgelaufen, aber egal. Sollen sie mich rausschmeißen. Ich zeige Ihnen noch die Szene bis zum Umfallen… Beckenbauer, Baresi, Kohler – alle Liberi und Manndecker der Welt hätten hier stehen können. Sie wären allesamt von ihm ausgetanzt worden.“ (NEWS: Alle aktuellen Infos zur Bundesliga)
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Dem Gefeierten ist das im ersten Moment nicht so wichtig. Schon in Dresden war ihm ein halbes Jahr zuvor ein Zaubertor geglückt, als er nach einem Kunststück – Ball mit der Hacke über den Gegenspieler – aus spitzem Winkel traf. Nun hat er einen bescheidenen Wunsch: „Ich möchte auch mal normale Tore schießen, ein Schuss aus 30 Metern.“
Der Unterschied zu einem normalen Tor wird ihm schon bald bewusst. Der „Wahnsinnstanz“ (kicker) wird zum Tor des Monats August und zum Tor des Jahres 1993 gewählt.