Seine Verpflichtung hat sich ausgezahlt! Vor einem Jahr kam Matthijs de Ligt von Juventus Turin zum FC Bayern – und entwickelte sich nahezu auf Anhieb zu einem bei Mitspielern und Fans beliebten Leistungsträger.
De Ligt: „WM war ein Problem für uns“
SPORT1 traf den 23 Jahre alten Innenverteidiger bei der Asien-Reise des Rekordmeisters in Tokio zum Exklusiv-Interview.
Dabei zog der Niederländer ein Fazit zu seiner ersten Saison an der Isar, sprach über die fehlende Torgefahr und die Probleme während der vergangenen Rückrunde, beurteilte die Verpflichtung seines neuen Innenverteidiger-Partners Min-jae Kim und erklärte, was Trainer Thomas Tuchel von seinem Vorgänger Julian Nagelsmann unterscheidet.
Außerdem nahm de Ligt die Mannschaft mit Blick auf die neue Spielzeit in die Pflicht. Sein Motto: „Wir brauchen Taten, nicht Worte!“
SPORT1: Matthijs, wissen Sie noch, was am 19. Juli 2022 war?
Matthijs de Ligt: Der FC Bayern hat meinen Transfer bekanntgegeben.
SPORT1: Richtig. Ein Jahr und etwas mehr als eine Woche ist Ihr Wechsel von Juventus Turin nach München nun her. Welche Note würden Sie Ihrem ersten Jahr geben?
De Ligt: Eine 2-.
SPORT1: Warum?
De Ligt: Weil wir als Mannschaft leider nicht alles gezeigt haben, was wir können - und da schließe ich mich ein. Ich würde sagen, dass ich in diesem einen Jahr beim FC Bayern viel gelernt und mich als Spieler sowie als Person weiterentwickelt habe. Trotzdem ist noch Luft nach oben. Nur einen Titel zu holen, ist nicht der Anspruch des FC Bayern. Und da gehe ich mit. Wir wissen, dass wir zu mehr fähig sind und genau das müssen wir in dieser Saison auch zeigen.
„Es gibt immer Dinge, an denen man arbeiten kann“
SPORT1: Was möchten Sie an Ihrem Spiel verbessern?
De Ligt: Es gibt immer Dinge, an denen man arbeiten kann – als Abwehrspieler in erster Linie am Defensivspiel, aber ich habe zum Beispiel auch das Ziel, mehr Tore nach Standards zu erzielen. Ich finde, dass ich noch mehr aus meiner Kopfballstärke machen muss. Mit Co-Trainer Anthony Barry arbeiten wir im Training daran, dass unsere Standards generell gefährlicher werden. Ich kann dazu beitragen.
SPORT1: Sie gelten als Leader der Zukunft. Ist es auch Ihr Ziel, in den Mannschaftsrat aufzurücken?
De Ligt: Wenn es so kommt, dann kommt es so, aber das ist kein vorrangiges Ziel von mir. Ich kann auch Verantwortung übernehmen und meine Teamkollegen unterstützen, ohne im Mannschaftsrat zu sein.
De Ligt: Deutsch verstehen war kein Problem
SPORT1: Zu Ihrer persönlichen Entwicklung gehört sicher auch, dass Sie eine neue Sprache gelernt haben. Mittlerweile können Sie schon jedes Interview problemlos auf Deutsch geben.
De Ligt: Und das ist mir sehr wichtig! Ich bin Verteidiger und muss auf dem Platz viel mit meinen Mitspielern kommunizieren und Kommandos geben. Es war als Niederländer schon von Anfang an kein großes Problem für mich, Deutsch zu verstehen, aber mir war klar, dass ich Unterricht brauche, um auch Deutsch zu sprechen. Also habe ich drei- bis viermal die Woche mit unserem Deutschlehrer Max geübt. Das hat geholfen.
SPORT1: Auf welcher Sprache werden Sie mit Ihrem neuen Abwehrpartner Min-jae Kim kommunizieren?
De Ligt: Erstmal auf Englisch.
„Min-jae kommt als Typ sehr positiv rüber“
SPORT1: Was denken Sie über seine Verpflichtung?
De Ligt: Ich freue mich! Min-jae kommt als Typ sehr positiv rüber, er ist ein sehr freundlicher Kerl und ich bin mir sicher, dass er eine absolute Verstärkung für unsere Mannschaft sein wird. Er hat mit Napoli Großes vollbracht – in der Serie A, aber auch in der Champions League. Mit ihm, Dayot (Upamecano; Anm. d. Red.), Benji (Pavard) und mir haben wir nun vier sehr gute Innenverteidiger. Und wir brauchen Optionen, wenn wir in drei Wettbewerben erfolgreich sein wollen.
Vergangene Saison zum Beispiel haben Dayot und ich wegen der Verletzung von Lucas Hernández fast alles in der Rückrunde gespielt, was nicht so einfach war, weil wir alle drei bis vier Tage im Einsatz waren und du dich als Verteidiger körperlich immer verausgaben willst und auch musst. Deshalb ist es gut für uns und gut für den Trainer, dass wir mehrere Optionen haben. Min-jae wird uns sehr guttun. Er ist ein Verteidiger, der sehr viel Intensität, aber auch Konzentration und Ruhe mitbringt.
SPORT1: Hat der FC Bayern jetzt die beste Innenverteidigung in Europa?
De Ligt: Diese Frage kann ich unmöglich beantworten und es ist meiner Meinung auch viel zu früh, um überhaupt darüber zu sprechen, weil wir noch nie mit Min-jae zusammengespielt haben und uns auf dem Platz erst einmal richtig kennenlernen müssen. Generell brauchen wir Taten, nicht Worte. Rein von den Namen her ist unser Kader sehr stark, wir haben auf jeder Position sehr große individuelle Qualität. Aber: Im Fußball zählt nur die Gruppe, nur die Mannschaft. Du kannst nichts allein machen, das wird auf keinen Fall funktionieren.
„Die WM war ein Problem für uns“
SPORT1: In der vergangenen Saison hat der FC Bayern auf und neben dem Platz nicht immer wie eine Einheit gewirkt. War das aus Ihrer Sicht der Grund für die holprige Rückrunde?
De Ligt: Es gab mehrere Gründe, aber ich würde sagen, dass vor allem die WM ein Problem für uns war. Davor hatten wir eine richtig starke Serie mit vielen Siegen, vielen Toren und wenigen Gegentoren. Dann kam die WM und viele Spieler sind enttäuscht zurückkehrt – die Deutschen, die Franzosen, ich auch. Dazu ein paar Verletzungen, lange Ausfälle wie die von Manuel Neuer, Sadio Mané und Nous (Mazraoui). Das war nicht einfach! Und dann haben wir zu Beginn der Rückrunde dreimal Unentschieden gespielt und plötzlich war der Druck da.
Es wurde unruhig und wir Spieler haben es nicht mehr geschafft, an unser Maximum zu gelangen. Es waren immer nur 60, 70 Prozent und am Ende reicht das nicht. Wir waren in der entscheidenden Phase der Saison nicht auf der Höhe und dann bringt dir auch eine sehr gute Hinrunde nichts. Manchester City zum Beispiel lag im Spätherbst neun Punkte hinter Arsenal. Zu diesem Zeitpunkt dachte wohl niemand, dass sie wieder Meister werden oder sogar das Triple holen. Aber sie waren eben da, als es darauf ankam. Bei uns war es genau umgekehrt.
SPORT1: Das lag aber auch an teils eklatanten individuellen Fehlern – gerade in der Champions League, als Ihr Abwehrpartner Upamecano gegen Manchester City gepatzt hat.
De Ligt: Im Fußball entscheiden Kleinigkeiten. Aber wir alle machen Fehler. Auch ich habe schon Fehler gemacht. Und trotzdem geht‘s weiter. Ich bin der Meinung, dass sich jeder an die eigene Nase fassen muss. Wenn jeder sein Bestes gibt und auf 100 Prozent kommt, dann haben wir eine Mannschaft, die um jeden Titel mitspielen kann.
Unterschiede zwischen Tuchel und Nagelsmann
SPORT1: Ein echter Neuner wie Harry Kane könnte zumindest dafür sorgen, dass die Mannschaft wieder mehr Tore erzielt.
De Ligt: Möglich, aber es ist nicht so, dass uns vorne die Qualität fehlt. Am Ende ist es auch immer eine Sache des Selbstvertrauens. Und wie gesagt: Einige Spieler kamen mit wenig Selbstvertrauen von der WM zurück. Serge (Gnabry) zum Beispiel hat am Ende der Saison wieder richtig zuverlässig und oft getroffen. Du brauchst gerade als Stürmer Selbstvertrauen und das war nach der WM bei vielen einfach nicht mehr so vorhanden.
SPORT1: Mit Thomas Tuchel kam Ende März ein neuer Trainer. Was unterscheidet ihn als Coach von Julian Nagelsmann?
De Ligt: Nagelsmann wollte immer, dass wir mit viel Schnelligkeit und hoher Intensität attackieren. Tuchel legt ein wenig mehr Wert auf Kontrolle, Ruhe und Geduld – gerade im Passspiel. Das ist aus meiner Sicht der größte Unterschied. Es sind verschiedene Philosophien, die aber beide zum Erfolg führen können.
SPORT1: Wie verstehen Sie sich mit Tuchel?
De Ligt: Wir haben ein sehr gutes Verhältnis. Er gibt mir und auch uns als Team immer sehr gute und klare Informationen mit auf den Weg. Wir sprechen viel über die Arbeit auf dem Platz und genau darum geht es. Ich fühle mich gut.
„Ich liebe meinen Beruf“
SPORT1: Zwei Ihrer früheren Ajax-Kollegen, Noussair Mazraoui und Ryan Gravenberch, haben sich im Gegensatz zu Ihnen noch nicht beim FC Bayern etabliert. Es gibt immer wieder Gerüchte, dass sie den Verein noch verlassen könnten. Glauben Sie, dass sie bleiben und sich durchsetzen wollen?
De Ligt: Ja, das glaube ich. Es ist nicht so einfach, wenn du bei Ajax immer gesetzt bist und plötzlich zu einem noch größeren Verein ins Ausland gehst. Dann bist du nicht mehr das Top-Talent aus der eigenen Jugend, dann bist du ein Neuzugang, der direkt liefern muss. Das habe ich bei Juventus ja auch so erlebt. Ich bin bei Nous und Ryan sicher, dass sie eine starke Saison spielen werden. Sie trainieren aktuell sehr gut. Bei Nous war es ja auch so, dass er zu Beginn der Hinrunde verletzt war und zu Beginn der Rückrunde Herzprobleme hatte. Das war nicht einfach für ihn. Aber er hat große Qualitäten – genauso wie Ryan. Es ist nur wichtig, fit und geduldig zu bleiben.
SPORT1: Sie klingen wie ein Routinier, der schon alles im Fußball erlebt und mitgemacht hat, sind aber selbst gerade einmal 23. Woher kommen diese Ruhe und diese Reife?
De Ligt: Ich würde einfach sagen, dass ich ein ruhiges und ausgeglichenes Leben habe. Ich liebe meinen Beruf, ich liebe Fußball, ich liebe es jeden Morgen zum Training zu fahren und mich ein, zwei Stunden komplett zu verausgaben. Danach genieße ich es einfach, zu Hause zu sein und Zeit mit meiner Verlobten zu verbringen.
De Ligt froh über Schritt zu Bayern
SPORT1: Was machen Sie in Ihrer Freizeit am liebsten?
De Ligt: Wir sind gerne mit unseren Hunden in der Natur. Das gibt mir vielleicht diese Ruhe, von der Sie sprechen. München ist eine sehr schöne Stadt mit einer sehr schönen Umgebung. Ich brauche nicht den großen Trubel, sondern muss gut abschalten können, um mit voller Energie Fußball spielen zu können.
SPORT1: Klingt so, als könnten Sie sich gut vorstellen, sehr lange in München zu bleiben.
De Ligt: Ja. Ich hoffe auf jeden Fall, sehr lange bleiben zu können. Ich habe ein sehr gutes Gefühl mit dieser Mannschaft und kann mich voll mit ihr und dem Verein identifizieren. Ich bin sehr froh, den Schritt zum FC Bayern gemacht zu haben.