In den Worten der Dortmunder Verantwortlichen zu Sébastien Haller nach dem 3:0-Sieg gegen Augsburg schwang neben der verständlichen Freude über die errungene Tabellenführung auch viel Emotionalität mit.
Der größte Trumpf des BVB
„Der Mensch Sébastien Haller mit diesem Willen, mit dieser positiven Energie hat uns so gefehlt in der Kabine. Es ist das größte Wunder, dass Seb so zurückkommt in dieser Saison. Jetzt hoffe ich, dass er nächste Woche noch einmal ähnlich erfolgreich unterwegs ist und zum Helden der Saison wird. Aber wir sind unglaublich stolz, wir haben sehr gelitten mit ihm“, sagte Edin Terzic auf der Pressekonferenz.
Der 40-jährige Cheftrainer meinte ebenso, dass diese Freude gilt, egal was in der Tabellenkonstellation passiere. Die Diagnose Hodenkrebs Mitte Juli warf nicht nur Terzics sportliche Pläne über den Haufen, sondern war ein Schlag in die Magengrube für alle im Verein. Haller war erst wenige Wochen bei der Mannschaft, als designierter Nachfolger von Erling Haaland gekommen, und musste nun um mehr als nur seine fußballerische Zukunft fürchten.
Dass er im Januar nach überstandener Chemotherapie mit Elan zur Mannschaft stieß, gab vielen Beteiligten einen Boost. „Überragender Spieler, überragender Mensch. Ich kann nur in den höchsten Tönen über ihn reden“, sagte Torwart Gregor Kobel in der Mixed Zone der Augsburger WWK-Arena.
Auch ohne Tore sehr wichtig
Dass Haller in dieser Saison ein „überragender Spieler“ sein kann, wurde kurz nach seinem Comeback im Januar noch in Frage gestellt, denn körperlich war der ivorische Nationalspieler aufgrund der Krebsbehandlung und langen Pause weit weg von 100 Prozent. Er wirkte schmächtig und ohne die bekannte Durchschlagskraft im Strafraum.
In seinen ersten neun Ligaeinsätzen, darunter sechs von Beginn an, traf Haller nur einmal. In den vergangenen beiden Partien waren es insgesamt vier Treffer, wodurch sein Tore-Konto bei neun steht.
Ohne die Abstinenz in der ersten Saisonphase hätte Haller wohl locker die Torjägerkrone eingesackt. Aber eigentlich noch wichtiger als seine Tore ist der taktische Faktor Haller. Mitspieler betonen seit Wochen, wie Haller dem Offensivspiel des BVB viel mehr Struktur verleiht. Er fungiert als klassischer Zielspieler, der vor oder auch zwischen den gegnerischen Innenverteidigern den Ball aufnimmt, ablegt oder direkt prallen lässt.
Mit Haller besitzen die Offensivkräfte dahinter einen Fokuspunkt, den sie anpeilen können. So hatte es Terzic eigentlich schon in der Sommervorbereitung geplant.
Bayern fehlt ein Haller
In der Hinrunde fehlte jedoch genau dieses Element, denn Youssoufa Moukoko und Donyell Malen sind Angreifer, die nach vorne gerichtet spielen und nicht mit dem Rücken zum Tor brillieren können. Zudem kommen beide am besten zur Geltung, wenn sie als Schattenstürmer hinter einem Ziel- und Wandspieler wie Haller agieren dürfen.
Die besondere Rolle als Ziel- und Wandspieler schlägt sich auch statistisch nieder. So gehört Haller mit durchschnittlich 1,55 Vorwärtspässen (über neun Meter und mehr) pro 90 Minuten zu den unteren 40 Prozent aller Mittelstürmer in Europas Top-5-Ligen, aber mit 2,82 Schussvorbereitungsbeteiligung zählt er wiederum zum oberen Viertel.
Haller spielt viel nach hinten, aber tut dem der BVB-Offensive nach vorn gut. Gerade die Reihe hinter ihm mit Malen wie auch Julian Brandt und Karim Adeyemi, die in der Rückrunde teils brillant auftreten, profitieren ungemein von Haller.
Die Krux im Titelkampf ist, dass Bayern München solch ein Zielspieler seit dem Weggang von Robert Lewandowski weitestgehend fehlt. Eric Maxim Choupo-Moting kann gelegentlich in diese Rolle schlüpfen, ansonsten steht vorn beispielsweise ein Serge Gnabry und alles ist in Richtung Tor ausgerichtet.
Hinzu kommt die emotionale Komponente, die mit der Geschichte Hallers verbunden ist. Den Krebs besiegt zu haben, ist tausendmal wichtiger als eine Deutsche Meisterschaft, aber sollte die Schale nach elf Jahren wieder nach Dortmund gehen, wäre Haller schon jetzt eine BVB-Legende.